Britta Kuhn
Katrine Marçals gleichnamiges Buch überzeugt bestenfalls als klischeereiche Unterhaltungslektüre.[1]
Etikettenschwindel
Der erste Eindruck ist positiv: Umfangreiche Anmerkungen und Literaturangaben, eine klare Gliederung und vor allem ein Untertitel, der neugierig macht: „Wie in einer Welt für Männer gute Ideen ignoriert werden“. Aber schon das erste Kapitel enttäuscht. Es geht um die Frage, warum sich Rollkoffer erst 5.000 Jahre nach Erfindung des Rads durchgesetzt haben. „Trivial“, denkt die Leserin, „Massentourismus erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts, zuvor billiges Personal und miserable Straßen“. Aber die schwedische Journalistin Marçal schafft es, mit ihrer Antwort über 20 Seiten zu füllen. Noch am Interessantesten sind dabei ihre umfangreichen Anleihen bei Robert Shillers „Narrative Wirtschaft“ (gute Ideen setzen sich oft langsam durch) und bei Nassim Talebs „Antifragilität“ (Menschen übersehen oft die einfachsten Lösungen). Die Kurve zu ihrem vermeintlichen Thema (Frauen? Erfinderinnen?) schafft die Autorin bestenfalls nach 16 Seiten: Schuld war, dass Männer ihren Frauen das Gepäck trugen. „Die Widerstände des Marktes gegen den Rollkoffer hatten also eine Menge mit dem Thema Gender zu tun“ (S. 27). Weiter geht‘s mit anderen Einflussfaktoren, die offensichtlich wichtiger waren (z.B. die Vorbildfunktion des fliegenden Personals). Ganz zu schweigen davon, dass gemäß Marçals Ausführungen Männer den Rollkoffer erfanden und weiterentwickelten.
Ist der Buchtitel „Mutter der Erfindung“ also reines Marketing? Sieht so aus. Denn auch die folgenden Kapitel drehen sich um alles Mögliche, zum Beispiel um die Technologiegeschichte des Autos oder der Textilwirtschaft. Genderthemen werden hier bestenfalls beigemischt. Erst später kommen verstärkt Frauen ins Spiel, etwa wenn es um die mittelalterliche Hexenverfolgung, moderne Influencerinnen oder ehemalige Programmiererinnen geht.
Oberflächliche Klischees
Wo es interessant werden könnte, denkt Marçal nicht zu Ende. Beispiel Kapitel 4: Warum wurde das Programmieren vom Frauen- zum Männerberuf? „Erfahrene Programmiererinnen wurden beauftragt, die jungen Männer praktisch zu ihren eigenen Vorgesetzten auszubilden“, schreibt sie auf S. 93. Damit hätten Frauen keine Aufstiegschancen mehr in der IT gehabt und sich zurückgezogen. Aber warum haben diese Frauen keine eigenen Firmen gegründet? Warum haben sie ihr Wissen also nicht zu Geld gemacht? Stellt die Autorin diese Fragen vielleicht deshalb nicht, weil sie nicht zu den von ihr transportierten Klischees passen? Als da beispielsweise wären: „Abenteurer sind, wie wir wissen, männlich“ (S. 37). Oder: „Sämtliche als weiblich angesehenen Werte habe wir in die private Sphäre abgedrängt: Dort ist es vertretbar, zu ‚behüten‘“ (S. 121). In sich widersprüchlich argumentiert das Buch schließlich, wenn es zunächst um die körperliche Überlegenheit des Mannes geht, um später das Klischee zu kritisieren, dass wir angeblich „das Körperliche der Frau und das Geistige dem Mann zuschreiben“ (S. 173).
Wäre die Autorin 99 Jahre alt und im konservativen Deutschland sozialisiert worden – es wäre ihr verziehen. Aber sie kommt auf keine 40 Jahre und aus Schweden! Weh tut auch, wenn sie anekdotische Evidenz mit Empirie gleichsetzt. So behauptet Kapitel 3, Berufe würden durch den Einsatz von Werkzeugen und Maschinen, die selbstredend von Männern bedient würden, aufgewertet. Beispiel Arzt versus Hebamme in der Geburtshilfe. Wie erklärt dies das hohe Prestige des Professoren-Berufs, also geistiger Arbeit? Oder die Tatsache, dass inzwischen vor allem Frauen Medizin studieren?
Locker runtergeschrieben
Als Unterhaltungslektüre für Menschen, die sich für Technologiegeschichte interessieren, eignet sich das Buch jedoch durchaus. Daneben wirft es interessante Fragen auf (ohne diese zu beantworten, siehe oben): Warum gibt es zum Beispiel viel weniger Risikokapital für Frauen als für Männer? Und sollten wir wirklich unser Finanzsystem ändern, anstatt „Frauen eine höhere Risikobereitschaft anzutrainieren“ (S. 120)? Ist schließlich Kylie Jenners Erfolgsrezept nachahmenswert oder doch wieder nur eine bemitleidenswerte Rollenzuweisung?
Schon 2016 veröffentlichte Marçal ein ähnliches Werk auf Deutsch. „Machonomics. Die Ökonomie und die Frauen“ bot einen ebenfalls gut geschriebenen, aber seichten Einblick in die VWL-Grundlagen für Laien, der nur am Rande etwas mit Frauen zu tun hatte. Die Autorin hat verstanden: „Gender sells“.
Quellen:
[1] Katrine Marçal, Die Mutter der Erfindung. Wie in einer Welt für Männer gute Ideen ignoriert werden. Rowohlt, Berlin 2022. Schwedisches Original von 2020, englische Übersetzung von 2021.