Britta Kuhn
Laut Dirk Oschmann werden Ostdeutsche diskriminiert. Steffen Mau spricht dagegen von Ossifikation.[1]
Podiumsdiskussion in Dresden
Am 19.2.2024 besuchte ich eher zufällig eine Podiumsdiskussion im Dresdner Kulturpalast. Philharmonie-Intendantin Roth diskutierte mit SZ-Journalist Pollmer und Literaturwissenschaftler Oschmann über dessen Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“. Themen u.a.: Werden Ostdeutsche bis heute diskriminiert? Und wer ist überhaupt Ostdeutscher? Alle rund 1.800 Plätze waren besetzt, darunter viele jüngere Menschen. Ich war erstaunt, Oschmann nicht: Sein Buch verkaufe sich in den neuen Bundesländern ungleich besser als in den alten.
„Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ von Dirk Oschmann
Der Leipziger Professor veröffentlichte am 4.2.2022 einen FAZ-Artikel, der hohe Wellen schlug. Sein Buch vertieft den Artikel und greift die anschließende Kontroverse auf. Stilistisch polemisch-polarisierend gehalten, verweist es bewusst überspitzt auf zahllose strukturelle Benachteiligungen Ostdeutscher – selbst mehr als 30 Jahre nach der Vereinigung von BRD und DDR. Viele Einzelfälle, die der Autor zusammenträgt, zeichnen ein wahrhaft überhebliches Bild dominanter westdeutscher Männer. Den Osten zeichnet der 1967 Geborene dagegen durchweg als wehrloses Opfer, der es seit 1990 weder zu Macht, noch zu Geld brachte. Praktisch alles Negative, was dem Osten zugeschrieben werde, käme in Wirklichkeit aus dem Westen – z.B. die AfD. Auf jeden Fall müsse der „geographical pay gap“ (S. 116) endlich aufhören, damit auch Ostdeutsche Vermögen aufbauen könnten.
Westdeutsche, von Arroganz bis Ignoranz durchtränkte Ost-Klischees, die Oschmann zusammenträgt, grenzen in der Tat ans Lächerliche – z.B. das SPIEGEL-Cover vom 24.8.2019 „So isser, der Ossi“. Anderes wirkt dagegen weinerlich und sprengt das Thema – z.B. die Klage über die Dominanz der Natur- über die Geisteswissenschaften im akademischen Betrieb in puncto Geldeinwerbung. Um eine exakte Definition, wen er eigentlich als ostdeutsch betrachtet, drückt sich Oschmann. Jedenfalls gemeint sind Männer, die zwischen 1945 und 1975 in der DDR zur Welt kamen und nicht abwanderten bzw. flohen. Also Männer wie Oschmann selbst. Frauen, ausländische Zuwanderer und nach 1989 Geborene spielen in seinem Buch kaum eine Rolle.
„Ungleich vereint“ von Steffen Mau
Der Soziologe Mau reagiert (unter anderem) explizit auf Oschmanns Werk. Auch er spitzt zu – z.B. widmet er das gesamte erste Kapitel der „Ossifikation statt Angleichung“ der neuen Bundesländer. Soll heißen: Trotz erheblicher Konvergenz bleibe der Osten dauerhaft anders, ähnlich wie Bayern. Diese Grundthese verdeutlicht der Berliner Professor anhand empirischer Daten und zahlloser wissenschaftlicher Studien. Allein Kapitel 1 klärt beispielsweise auf: Zwischen 1947 und 1989 sank die Bevölkerung in der DDR um 14%, während sie in der BRD um rund 30% stieg. Nach dem Mauerfall sank sie durch Abwanderung und Geburteneinbruch von knapp 15 Millionen (ohne Berlin) auf heute 12,5 Millionen. Zum Vergleich: In Bayern leben 13 Millionen Menschen, in Nordrhein-Westfalen über 18 Millionen. Erst seit 2017 ziehen mehr Bürger von West nach Ost als umgekehrt. Prognosen rechnen jedoch in ländlichen Gebieten mit einem Schwund von bis zu 25% bis 2040. Weitere sozioökonomische Kennziffern: Die Zahl der Tennisplätze, die Moscheen-Dichte und die Lebenserwartung von Männern liegt in den neuen Bundesländern deutlich unter den entsprechenden Kennzahlen der alten BRD. Allein das Erbschaftssteueraufkommen Ostdeutschlands ohne Berlin erreicht weit unterdurchschnittliche 2%.
Wie Oschmann konstatiert Mau ein strukturelles Elitenproblem. Selbst in den ostdeutschen Landesregierungen habe der Anteil der dort Geborenen 2020 ein historisches Minimum erreicht. Anders als Oschmann schiebt der ein Jahr jüngere Mau die Ursache aber nicht allein auf den Westen, sondern sucht die Ursachen auch vor Ort. So reflektiert er z.B. in Kapitel 2 die „Ausgebremste Demokratisierung“ und in Kapitel 3 „Kein 1968“. Sein Buch erklärt u.a. das abweichende Russlandbild oder warum die AfD im Osten überproportional erstarken konnte – vor allem auf dem Land, wo sie ehrenamtliche Aufgaben wie Sportvereine und freiwillige Feuerwehren anbiete, die vielerorts zuvor nicht (mehr) existiert hätten.
Fazit
Maus Analyse reicht tiefer und bietet empirische statt anekdotischer Evidenz. Oschmann liest sich dafür lockerer und zeigt sich am Ende seiner Streitschrift (S. 200) versöhnlich: „Man könnte überhaupt aufhören, das unfreie und idiotisch binäre West-Ost-Schema zu bedienen, das ich hier zwangsweise selbst noch einmal vorgeführt habe, und stattdessen das ganze Land im historisch gewachsenen Reichtum seiner unterschiedlichen Regionen, Dialekte, Mentalitäten und Kulturlandschaften sehen“. Wohl wahr.
Quellen:
[1] Dirk Oschmann, Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Ullstein, Berlin 2023. Steffen Mau, Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt. Suhrkamp, Berlin 2024.