Prof. Dr. Britta Kuhn
Im Mainstream angekommen: Kritik am Shareholder-Value-Prinzip
Er wurde wie ein Heiliger verehrt: Alfred Rappaport, der 1986 den Gedanken populär machte, Aktiengesellschaften ausschließlich nach dem Ertragswert des Eigenkapitals zu steuern[1]. In aller Welt entwickelte sich dadurch die Maximierung des Aktionärsvermögens zum Maß aller Dinge. Geschäftsbereiche, deren Eigenkapitalrendite die ehrgeizigen Zielvorgaben nicht erreichten, wurden aufgegeben oder verkauft. Wer nicht „performte“, flog. Das galt auch für viele Beschäftigte. „Up or out“ lautete deshalb auch das neue berufliche Leitbild. Jack Welch machte es jahrelang mit unerbittlicher Härte vor: Zwischen 1981 und dem Jahr 2001 steigerte er General Electric‘s Marktwert von 13 auf 400 Mrd. US-Dollar[2].
Mit der Finanzkrise kam das Konzept ins Wanken: Zu kurzfristig seine Ausrichtung, zu eindimensional auf die Aktionärs-Interessen ausgerichtet, maßgeblich Schuld an der übermäßigen Risikobereitschaft großer Aktiengesellschaften und exzessiver Manager-Vergütung. Medienwirksam distanzierte sich selbst Jack Welch Anfang 2009 vom Shareholder-Value-Gedanken und die Süddeutsche Zeitung kommentierte: „Es ist, als sei der Papst aus der Kirche ausgetreten“[3].
Wissenschaftliche Studien belegen Kurzfrist-Denken
Inzwischen belegen mehrere empirische Untersuchungen, dass Manager im Shareholder-Value-System Investitionen aufschieben, um bessere Quartalsergebnisse ausweisen zu können, die wiederum die immer ungeduldigeren Anleger beeindrucken sollen. Besonders kurzsichtig verhalten sich nach einer Studie des US-Investors John Bogle Investmentfonds, die Aktien meistens innerhalb eines Jahres verkaufen würden, während Fondsmanager zwischen 1940 und 1955 Wertpapiere noch sieben Jahre lang gehalten hätten[4]. Haldane und Davies stellten für 450 US- und 174 britische Aktiengesellschaften zwischen 1980 und 2009 fest, dass der Kapitalmarkt künftig zu erwartende Zahlungsströme zu stark diskontiert, und zwar umso stärker, je länger der Betrachtungszeitraum[5]. Im Klartext: Anleger werden mit längerem Investitionshorizont immer konservativer, was eine Verzerrung zulasten langfristiger und zugunsten kurzfristiger Engagements darstellt. Graham, Harvey und Rajgopal schließlich zeigten durch Tiefeninterviews mit über 400 Finanzmanagern börsennotierter Unternehmen, dass die Einhaltung der Quartalsziele über allem steht: 80 Prozent der Unternehmen würden dafür die Investitionen senken und über 50 Prozent selbst dann Projekte verschieben, wenn dies mit einem Werteverlust für das Unternehmen verbunden wäre[6].
Rappaports Antwort
In seinem Buch „Saving Capitalism From Short-Termism” reagierte Rappaport letztes Jahr umfassend auf Kritik am Shareholder-Value-Gedanken. Die gegenwärtigen Anreizmechanismen seien falsch: Unternehmens- und Investment-Manager würden für kurzfristige Ziele honoriert anstatt für die Schaffung langfristiger Werte. Hieraus folge eine übermäßige Konzentration auf Quartalsergebnisse[7]. Er empfiehlt längerfristig ausgerichtete und ausgeklügelte Kompensationssysteme sowohl für alle Unternehmensebenen als auch für Investment-Manager. Außerdem legt er detailliert dar, wie die externe Rechnungslegung transparenter gestaltet und so die Kapitalallokation verbessert werden könnte[8].
Rappaports Anregungen verdienen Beachtung. Sie bieten konkrete und umsetzbare Alternativen im Rahmen variabler Vergütungsmodelle bzw. der Finanzberichterstattung, die sich an langfristiger Wertschöpfung orientieren. Allerdings bleibt zweifelhaft, ob seine Vorschläge ausreichen, um qualitatives Wachstum für eine Bevölkerungsmehrheit zu schaffen. Beispielsweise gäbe es in seinem System weiterhin Quartalsberichte, die möglicherweise zu „frisieren“ wären, um begrenzt rationale Anleger zu gewinnen bzw. zu behalten. Das Finanzsystem würde dadurch langfristig nicht stabiler als heute. Rappaport ignoriert nämlich die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik, wenn er die Lösung einzig in transparenteren Berichtssystemen sieht. Anleger handeln nicht immer vollständig informiert und die Theorie effizienter Finanzmärkte beschreibt die Realität vor allem kurzfristig unvollständig. Auch die Rolle intrinsischer Mitarbeitermotivation, von Verhaltensökonomen umfassend belegt, ignoriert der Autor. Er sieht die Lösung ganz traditionell und ausschließlich in differenzierten extrinsischen Anreizmodellen. Schließlich spielen weitere Stakeholder eines Unternehmens oder Externalitäten in seinem System wie gehabt keine Rolle. Eine systemrelevante Bank etwa wüsste weiterhin, dass der Steuerzahler sie retten muss. Sie könnte daher wie bisher übermäßige Risiken in Kauf nehmen. Diese wären nun bestenfalls eher länger- als kurzfristiger Natur.
Weitere Alternativen innerhalb des Shareholder-Value-Konzeptes
Weniger an Firmenlenker als an Politiker richten sich Haldane und Davies. Sie fassen zur politischen Bekämpfung des „Kapitalmarktversagens“ Vorschläge aus der Literatur zusammen: Erstens sollten die Transparenzanforderungen bezüglich der langfristigen Leistungsfähigkeit, Strategie und Vergütungspraktiken zunehmen. Zweitens könnten die Fürsorgepflichten der Aktionäre auf langfristige Ziele ausgedehnt werden und ihre Stimmrechte mit der Anlagedauer steigen. Drittens seien die Vergütungssysteme längerfristig auszurichten. Viertens könne der Staat über Steuern kurzfristige Wertpapieranlagen und Unternehmensinvestitionen bestrafen und/oder über Subventionen langfristige Anlagen bzw. Investitionen begünstigen. Ohne politische Interventionen drohe der Zeithorizont dagegen immer kürzer zu werden[9].
Eine weitere Möglichkeit läge darin, Aktienoptionen zu verbieten[10]. Boni können in vielfältiger anderer Weise ausgeschüttet werden, die Manager nicht zur Aktienkurspflege stimulieren. Denn selbst eine späte Realisierung nach 10 Jahren oder mehr birgt erhebliches Manipulationspotenzial. Schließlich: Warum nicht die Quartalsberichterstattung abschaffen? Schon eine halbjährliche Berichterstattung würde den Informationsbedürfnissen der Anleger vollkommen genügen und die Investitionstätigkeit verstetigen. Insbesondere Unternehmen mit saisonalen Umsatzschwankungen würden davon profitieren. So verzichtete zum Beispiel Porsche bis zur Übernahme durch VW freiwillig auf ausführliche Quartalsberichte und damit auf eine Mitgliedschaft im Deutschen Aktienindex DAX, denn: „Das kurzfristige Rauf und Runter der Kennzahlen verwirre lediglich die Aktionäre – dabei komme es doch auf die langfristige Entwicklung an.“[11] Die Mannheimer AG Holding wechselte ihrerseits 2003 in den „General Standard“, um keine ausführlichen Quartalsberichte mehr veröffentlichen zu müssen[12].
Neue Ufer jenseits des Shareholder-Values
Die Kritik am Shareholder-Value-Gedanken an sich ist nicht neu. Malik zum Beispiel geißelt diesen Ansatz öffentlichkeitswirksam seit über einem Jahrzehnt und will ihn durch einen „Customer Value“ ersetzen. Kundenorientierung befriedige dann ganz automatisch auch das Aktionärsinteresse[13]. Legendär wurde im Jahr 2005 SPD-Politiker Müntefering, der ausgewählte US-Investmentgesellschaften als „Heuschrecken“ bezeichnete[14]. Schließlich bemängelte auch der Wirtschaftsethiker Ulrich schon vor der Lehman-Pleite: „Dieses Denken fungiert als ideologische Entlastung von moralischen Ansprüchen der Rücksichtnahme auf andere.“[15]
Im Zuge der Finanzkrise explodierte die Kritik. Mit am weitesten ging bisher Sahra Wagenknecht. In „Freiheit statt Kapitalismus“ macht sie den Shareholder-Value-Gedanken in enger Anlehnung an Malik für eine „ausgezehrte Welt-AG“ verantwortlich, was zunehmend auch Familienunternehmen belaste[16]. Sie schlägt einen „kreativen Sozialismus“ vor, der Banken, Versorger und große Industrie-Unternehmen verstaatlicht. Private Großunternehmen würden hier der Vergangenheit angehören, private Wirtschaftsmacht dadurch zerschlagen und insbesondere Belegschaftseigentum eine neuerliche Machtkonzentration verhindern[17]. Im Klartext: Wagenknecht würde die Shareholder-Value-Orientierung durch die Abschaffung (privater) Aktiengesellschaften beenden. Meines Erachtens wäre dies jedoch der Weg vom Regen in die Traufe, da die Argumentation der Autorin oft auf grundlegend falschen Annahmen beruht. So klagt sie große Industrieunternehmen an und lobt durchweg den Mittelstand. Tatsächlich aber sind zum Beispiel die Mitarbeiter in Deutschland nirgendwo so rechtlos wie in mittelständischen Unternehmen. Sie verdienen durchschnittlich weniger, verfügen selten über Betriebsräte und kennen keine Unternehmens-Mitbestimmung. Besonders deutlich wird dieses Gefälle in der Automobilindustrie: Kein Mitarbeiter würde freiwillig von Volkswagen oder BMW zu einem mittelständischen Zulieferer wechseln! Auch fragt sich, ob die viel gescholtenen Eigenkapital-Renditeziele von Deutscher Bank & Co. im Vergleich zu einem typischen mittelständischen Betrieb tatsächlich astronomisch sind. Es gibt viele weitere Beispiele: Frankreichs Staatsunternehmen waren vor ihrer Privatisierung in den 1980er Jahren alles andere als erfolgreich und die Aktionäre haben weltweit schon Unmengen an Kapital verloren – man denke nur an die Eigenkapitalgeber der Hypo Real Estate.
Warum also unübersehbare Schwächen des Shareholder-Value-Ansatzes gleich zum Vehikel eines faktisch vollständigen ökonomischen Systemwechsels machen? Würde es nicht ausreichen, Aktiengesellschaften zu verpflichten, die Interessen weiterer Stakeholder zu berücksichtigen? So könnten die mit unternehmerischem Handeln verbundenen Externalitäten bezüglich umwelt- oder sozialpolitischer Ziele über das Steuer- und Transfersystem sowie das Umwelt- und Arbeitsrecht internalisiert werden. Schon heute müssen große Unternehmen zahlreiche gesellschaftspolitisch relevante Auflagen erfüllen – man denke nur an die obligatorische „Kunst am Bau“ oder an „Behindertenquoten“ in der Belegschaft. Weitere Auflagen wie „lokales Engagement“ wären denkbar, „Frauenquoten“ werden bereits leidenschaftlich diskutiert. Es handelt sich durchweg um Themen, die den Aktionär schwächen zugunsten weiterer gesellschaftlicher Interessengruppen.
Manager-Haftung stärken!
Der spanische Ökonom Sandro Brusco forderte schon vor 11 Jahren, neue Manager umso schlechter zu bezahlen, je mehr Gewinn sie erwirtschaften[18]. Sicher ein Scherz oder provokativer Gedanke wider den Maximierungszwang im Shareholder-Value-Ansatz. Meines Erachtens würde es aber reichen, Manager viel stärker als heute für Fehlentscheidungen finanziell haften zu lassen. Denn ein funktionierendes Haftungsprinzip ist bekanntlich das A und O der Marktwirtschaft. Der Mittelstand macht es vor: Unternehmer, die mit ihrem gesamten Vermögen geradestehen, denken automatisch risikoscheu und langfristig. Aktiengesellschaften sollten also keineswegs verstaatlicht, sondern über das Wettbewerbsrecht verkleinert („zerschlagen“) werden, um Manager wirksam in die Pflicht zu nehmen und systemische Risiken von der Volkswirtschaft abzuwenden. Eine ordnungspolitische Aufgabe ersten Ranges, welche die Marktwirtschaft nicht schwächen, sondern stärken würde.
[1] Alfred Rappaport, „Creating Shareholder Value: the new standard for business performance”. New York 1986. Einführung z.B. bei Gabler, Wirtschaftslexikon, „Shareholder Value“, Wiesbaden, diverse Auflagen.
[2] Süddeutsche.de, Karl-Heinz Büschemann,, „Shareholder-Value-Lehre – Die blödeste Idee der Welt“, 13.03.2009, http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/shareholder-value-lehre-die-bloedeste-idee-der-welt-1.405826, abgerufen am 03.05.2012.
[3] Süddeutsche.de, Karl-Heinz Büschemann, a.a.O..
[4] Handelsblatt.com, Malte Buhse, „Kurzfristiges Denken schadet der Wirtschaft“, 27.11.2011, http://www.handelsblatt.com/politik/oekonomie/nachrichten/studie-kurzfristiges-denken-schadet-der-wirtschaft/5883396.html, abgerufen am 03.05.2012.
[5] “Our evidence suggests short-termism is both statistically and economically significant in capital markets. It appears also to be rising.” Andrew G Haldane/Richard Davies, “The Short Long”, Brussels, May 2011,
http://www.bankofengland.co.uk/publications/Pages/news/2011/043.aspx, abgerufen am 03.05.2012.
[6] John R. Graham/Campbell R. Harvey/Shivaram Rajgopal, “The Economic Implications of Corporate Financial Reporting”, 11.01.2005, Fig. 5, S. 66. Vgl. auch S. 1: „more than three-fourths of the surveyed executives would give up economic value in exchange for smooth earnings.” http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=491627, abgerufen am 03.05.2012.
[7] Alfred Rappaport, „Saving Capitalism From Short-Termism: How to Build Long-Term Value and Take Back Our Financial Future”. McGraw Hill, 2011, S. XV f..
[8] Alfred Rappaport, a.a.O., Kapitel 5-9.
[9] Andrew G Haldane/Richard Davies, “The Short Long”, a.a.O., S. 14 f..
[10] HBR Blog Network, Roger Martin, “How To Make Companies Think Long-Term”, 03.10.2011, http://blogs.hbr.org/martin/2011/10/fixing-corporate-short-termism.html, abgerufen am 04.05.2012.
[11] zeit.de, Thomas Fischermann, „Machen Quartalsberichte Porsche kurzsichtig?“, 01.03.2001, http://www.zeit.de/2001/10/Machen_Quartalsberichte_Porsche_kurzsichtig_, abgerufen am 05.05.2012.
[12] Handelsblatt.com, „Mannheimer wechselt in den General Standard“, 14.08.2003, http://www.handelsblatt.com/finanzen/boerse-maerkte/boerse-inside/keine-ausfuehrlichen-quartalsberichte-mehr-noetig-mannheimer-wechselt-in-den-general-standard/2265662.html, abgerufen am 10.05.2012. Der Versicherungskonzern veröffentlicht allerdings weiterhin Zwischenmitteilungen auf Quartalsbasis, vgl. z.B. http://www.mannheimer.de/imperia/md/content/unternehmen/zwischenberichte/zwischenmitteilung_q3_final_101111.pdf, abgerufen am 10.05.2012.
[13] z.B. manager magazin online, Fredmund Malik, „Die Malik-Kolumne – Perpetuierung falscher Corporate Governance“, 14.10.2002,http://www.manager-magazin.de/unternehmen/karriere/0,2828,217433-4,00.html, abgerufen am 04.05.2012.
[14] Stern.de, „Kapitalismusdebatte: Die Namen der ‚Heuschrecken‘“, 28.04.2005, http://www.stern.de/politik/deutschland/kapitalismusdebatte-die-namen-der-heuschrecken-539759.html, abgerufen am 04.05.2012.
[15] dpa, wirtschaftswoche.de, „Wirtschaftsethiker Peter Ulrich: ‚Der Ansehensverlust der Wirtschaftselite ist massiv‘“, 21.02.2008, http://www.wiwo.de/erfolg/trends/wirtschaftsethiker-peter-ulrich-der-ansehensverlust-der-wirtschaftselite-ist-massiv-/5353950.html, abgerufen am 04.05.2012.
[16] Sahra Wagenknecht, Freiheit statt Kapitalismus, Frankfurt 2011, „Unproduktiver Kapitalismus“, Kapitel 3, v.a. S. 104: „Malik weist zu Recht darauf hin, dass der Shareholder Value im Grunde gar nicht für das Handeln in Unternehmen entwickelt wurde, sondern für den Handel mit Unternehmen.“
[17] Sahra Wagenknecht, a.a.O., „Kreativer Sozialismus“, Kapitel 3-6.
[18] zeit.de, Thomas Fischermann, „Machen Quartalsberichte Porsche kurzsichtig?“, a.a.O..