IST PIKETTY DER NEUE MARX?

Britta Kuhn

Am 10.10.2014 spricht der Pariser Verteilungsökonom in Frankfurt[1]

US-„Starökonom“ Paul Krugman liest kein Französisch. Sonst hätte er Thomas Pikettys Werk nicht erst im Frühjahr 2014 entdeckt[2]. Der daraus folgende, einzigartige Medienhype beschäftigte sich mit den Modellannahmen, der empirischen Fundierung und den politischen Schlussfolgerungen des Pariser Volkswirts. Auch die Bachelor-Thesis des WBS-Studenten Jonas Eisele analysiert Pikettys Thesen zur Vermögensverteilung und die Argumente seiner Kritiker[3].

Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“

Thomas Piketty stellt in seinem fast 700 (Englisch) bzw. fast 1.000 Seiten (Französisch) umfassenden Buch den empirischen Zusammenhang zwischen Einkommen, Vermögen und Ungleichheit her. Er nutzt umfangreiche historische Daten, vor allem Steuerstatistiken, aber auch viele weitere Informationen quantitativer und qualitativer Art. Sie stammen aus wichtigen Industrieländern, ein Schwerpunkt liegt neben Frankreich auf den USA und Großbritannien. Pikettys Daten reichen weit zurück, die Darstellungen im Buch konzentrieren sich aber in der Regel auf die Zeit seit der industriellen Revolution. Nach Aussage des Pariser Ökonoms führte der Kapitalismus in der Vergangenheit zu einer Vermögenskonzentration und wird dies auch künftig tun[4].

Die Vermögenskonzentration ergibt sich laut Piketty daraus, dass die Kapitalrendite dauerhaft das Wirtschaftswachstum übertrifft. Sie liegt nach seinen Analysen bei konstant 4-5%, was auch für die Zukunft anzunehmen sei, das maximale weltweite Wachstum dagegen deutlich darunter[5]. Das Verhältnis zwischen Kapital und Einkommen habe zumindest in Frankreich, Großbritannien und den USA seit der industriellen Revolution einer U-Kurve geglichen, mit einem allein kriegsbedingten Minimum Mitte des 20. Jahrhunderts. Seither nähme die Einkommenskonzentration also wieder zu[6].

Im vierten und letzten Teil seines Buches leitet Piquetty zahlreiche politische Forderungen ab, unter anderem eine weltweit höhere Einkommens- und Vermögensbesteuerung. Er äußert sich daneben zu vielen anderen wirtschaftspolitischen Problemen, etwa der Staatsverschuldung und ihrer Bekämpfung.

Theoretische, empirische und ideologische Kritik

Ökonomen wie Hans-Werner Sinn argumentieren modelltheoretisch gegen Pikettys Thesen: Seine Annahme einer konstanten Kapitalrendite widerspricht nämlich der neoklassischen Wachstumstheorie, die unter anderem von einer sinkenden Kapitalrendite bei zunehmendem Kapitaleinsatz ausgeht und Kapital anders definiert[7]. Andere Kritiker stellten Pikettys Datengerüst in Frage, allen voran die Financial Times, worauf Piketty wiederum reagierte[8]. Wirtschaftsliberale Medien wie der britische Economist bemängelten schließlich seine angeblich sozialistische Ideologie[9].

Gesamtbewertung Piketty’s Beitrag

Piketty hat einmalig umfangreiche und solide empirische Daten geliefert, die für jedermann einsehbar sind[10] und damit dem wissenschaftlichen Prinzip intersubjektiver Überprüfbarkeit hervorragend Genüge tun. Sein Buch ist deshalb ein ähnlicher Meilenstein wie Reinhard/Rogoffs Analyse von über 800 Jahren Finanzkrisen[11]. Auch um deren Daten folgten große Auseinandersetzungen. Pikettys politische Folgerungen zeugen allerdings auch von enormem Selbstbewusstsein und ähneln besonders in Kapitel 16 zur öffentlichen Verschuldung einem Rundumschlag. Im französischen intellektuellen Kontext erscheinen seine Vorschläge aber viel unspektakulärer als im Ökonomen-Mainstream anglo-amerikanischer Prägung. Auch ist es ein großes Verdienst dieses im mathematischen und empirischen Arbeiten versierten Ökonoms, die engen Grenzen seiner Zunft sprengen und aus der Volkswirtschaftslehre wieder eine Sozialwissenschaft ohne methodischen Tunnelblick machen zu wollen. Dieses Ziel durchzieht sein gesamtes Buch wie ein Mantra[12]. Themen wie Steuererhöhungen für Vermögende und Spitzenverdiener dürften aber in der inzwischen globalen Diskussion noch viele Auseinandersetzungen hervorrufen. Schließlich ist ungewiss, ob Pikettys Fortschreibung historischer Daten in die Zukunft sich bewahrheiten wird, was der Wissenschaftler selber zugibt[13] und in der Natur von Vorhersagen liegt.

Piketty ist also kein neuer Marx, sondern ein exzellenter, auf Verteilungsfragen spezialisierter und empirisch arbeitender Volkswirt, dessen Werk über den Umweg USA endlich auch nach Deutschland gelangt ist.


Quellen:

[1] Freitag, 10.10.2014, 14-16 Uhr, Goethe-Universität Frankfurt, Campus Westend, HZ, Hörsaal 2, vgl. http://www.institutfrancais.de/frankfurt/agenda-843/agenda-1697/livre-915/das-kapital-im-21-jahrhundert,34815.html?mois=prochain (Zugriff 24.9.2014).

[2] Paul Krugman, “Why We’re in a New Gilded Age”, The New York Review of Books vom 8.5.2014, http://www.nybooks.com/articles/archives/2014/may/08/thomas-piketty-new-gilded-age/ (Zugriff 13.9.2014).

[3] Jonas Eisele, „Thomas Pikettys Thesen zur Vermögensverteilung – Eine kritische Analyse“, Bachelor Thesis, Wiesbaden Business School der Hochschule RheinMain, 29.8.2014.

[4] Thomas Piketty, “Capital in the twenty-first century”, Cambridge (Mass.) und London 2014. Das französische Original “Le capital au XXI siècle” erschien 2013. Zusammenfassung seiner Kernaussagen (in der Folge wird auf die englische Fassung Bezug genommen) z.B. auf S. 571 ff. i.V.m. den identischen Figures 5.8. und 12.4. (S. 196 bzw. S. 461); noch kompakter bei Jonas Eisele, a.a.O., S. 3 und S. 17 f.

[5] Thomas Piketty, a.a.O., z.B. S. 572 i.V.m. Figure 10.9., S. 354; oder Jonas Eisele, a.a.O., S. 12.

[6] Thomas Piketty, a.a.O., z.B. S. 26 (v.a. Figure 1.2.) oder Jonas Eisele, a.a.O., S. 8 ff.. Die analogen Daten für Deutschland finden sich bei Piketty z.B. in Figure 4.1., S. 141.

[7] Details z.B. bei Hans-Werner Sinn, „Thomas Pikettys Weltformel“, Frankfurter Allgemeine Wirtschaft vom 13.5.2014, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/hans-werner-sinn-ungleichheit-ist-nicht-so-einfach-wie-thomas-piketty-denkt-12933579.html (Zugriff 13.9.2014); Kurzfassung bei Jonas Eisele, a.a.O., S. 7 f..

[8] Z.B. Chris Giles, „Piketty findings undercut bei errors“, Financial Times vom 23.5.2014, http://www.ft.com/cms/s/2/e1f343ca-e281-11e3-89fd-00144feabdc0.html#axzz3DBafpVOR (Zugriff 13.9.2014); Zusammenfassung bei Jonas Eisele, a.a.O., S. 13 f..

[9] Z.B. The Economist, “A modern Marx”, 3.5.2014, http://www.economist.com/news/leaders/21601512-thomas-pikettys-blockbuster-book-great-piece-scholarship-poor-guide-policy (Zugriff 13.9.2014); bei Jonas Eisele, a.a.O., v.a. S. 18.

[10] Thomas Piketty, a.a.O., z.B. S. 579.

[11] Carmen M. Reinhart und Kenneth S. Rogoff, „This Time is Different: Eight Centuries of Financial Folly“, Princeton University Press 2011.

[12] Vgl. z.B. Thomas Piketty, a.a.O., S. 32: “the discipline of economics has yet to get over its childish passion for mathematics and for purely theoretical and often highly ideological speculation, at the expense of historical research and collaboration with the other social sciences.” Bei Jonas Eisele, a.a.o., S. 16 f.

[13] Thomas Piketty, a.a.O., z.B. S. 35: “No one can foresee how these things will change in the decades to come. The lessons of history are nevertheless useful”.

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