Britta Kuhn
Am 27. April diskutierte Dr. Sahra Wagenknecht mit 250 Studierenden der Wiesbaden Business School über die Ursachen von Brexit und Trump.
© Dr. Rainer Lowack
Vortrag ohne Manuskript, Powerpoint, Ähs oder sonstige Füllwörter
Die Vorsitzende der Bundestagsfraktion DIE LINKE erläuterte in nur 30 Minuten, warum es aus ihrer Sicht zu Trump und Brexit kam und was sich ändern muss, um den Rechtsradikalismus zu stoppen. Anhand ausgewählter Verteilungsstudien kritisierte sie, dass ein zunehmender Bevölkerungsanteil in reichen Industrieländern vom Wohlstandswachstum abgehängt sei. Den aktuellen Mainstream, der im französischen Präsidentschaftskandidat Macron eine gute Lösung für Europa sieht, provozierte sie mit der Aussage: „Politiker wie Macron haben Le Pen stark gemacht.“[1] Daneben zeigte sie, wie stark sich die wirtschaftliche Machtkonzentration in Europa vom ordoliberalen Ideal eines Walter Eucken entfernt hat. Entflechtung sei dringend erforderlich, denn: „Wirtschaftsmacht zerstört Demokratie.“ Überhaupt sei der Einfluss von Lobbyisten in Brüssel noch viel stärker als in Berlin, argumentierte die ehemalige Abgeordnete des Europäischen Parlaments: „Wir brauchen einen Neubeginn in Europa.“ Denn gerade die EU-Verträge hätten dazu beigetragen, den Sozialstaat abzubauen – Stichwort Agenda 2010, die Gewerkschaften zu schwächen, Lohndumping und prekäre Arbeitsverhältnisse zu fördern und die Privatisierung maßlos zu übertreiben. Es sei falsch, elementare Lebensbereiche zu kommerzialisieren: „Eine Gesellschaft, die über die Eigenkapitalrendite eines Krankenhauses spricht, ist krank.“ Aber auch im Bildungswesen, beim elementaren Recht auf Wohnraum und im Versorgerbereich müsse die Privatisierung zurückgefahren werden. Unter Hinweis auf ihren jüngsten Bestseller „Reichtum ohne Gier“[2] empfahl Frau Wagenknecht unter anderem, statt leistungsloser Erbschaften lieber Stiftungsmodelle auszubauen.
© Dr. Rainer Lowack
Kontroverse Debatte mit den BWL-Studierenden
In der anschließenden Diskussion kamen die Annahmen der Spitzenpolitikerin auf den Prüfstand: Zum Beispiel relativierte eine Studentin Wagenknechts Pauschalkritik an privaten Krankenhäusern. Ein Student hinterfragte die gesunkene Gewerkschaftsmacht, indem er an die wochenlangen Streiks deutscher Spartengewerkschaften erinnerte. Widerspruch gab es auch hinsichtlich des relativen Armutsbegriffs, den die Referentin jedoch verteidigte. Die eingeleitete Bargeld-Einschränkung im Eurosystem geißelte Wagenknecht als Instrument der Bankenlobby. Im Kampf gegen die überragende Rolle des US-Dollars im Weltwährungssystem schlug sie Keynes‘ Bancor vor[3]. Schließlich plädierte die Doktorin der Wirtschaftswissenschaften dafür, dass auch angehende Betriebswirte umfassende weltwirtschaftliche Kenntnisse erlernen sollten – jenseits des engen Modellrahmens der neoklassischen Lehre.
Streitbare Thesen, die zum Denken und Diskutieren anregen
Frau Wagenknecht machte auch an der Wiesbaden Business School ihrem Ruf als unangepasste Intellektuelle alle Ehre. Schon in ihrem Buch von 2011 namens „Freiheit statt Kapitalismus“, (meine Buchbesprechung ab Minute 8’00 auf https://filer-studip.hs-rm.de/fb-wbs/ls-vwl/Vodcast_Kapitalismuskritische_Literatur_Prof._Dr._Britta_Kuhn.mp4) hatte fast jeder Satz das Potenzial für eine längere Debatte. Hier einige Beispiele aus der aktuellen WBS-Veranstaltung: (1) Die zitierten Verteilungsstudien eines Wirtschaftsforschungsinstituts, von Mc Kinsey und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband kamen zu erstaunlich vielen Verteilungsverlierern[4]. Wie verlässlich sind die genannten Zahlen? (2) Exportiert Deutschland wirklich Arbeitslosigkeit in andere EU-Länder, „weil wir in vielen Branchen katastrophal niedrige Löhne bezahlen“? Oder hat umgekehrt das EU-Ausland Löhne weit über der Arbeitsproduktivität gezahlt? (3) Wird „Wohnraum den Spekulanten überlassen“? Oder sind unsere Mietgesetze eigentümerfeindlich und unser Anspruch an Wohnfläche uferlos? (4) Greifen Stiftungslehrstühle empirisch nachweisbar in die Freiheit der Lehre ein? Oder erweitern sie den Bildungsetat in Zeiten öffentlicher Schuldenbremsen? (5) Schadet es wirklich der Gesundheitsversorgung, Leistungen (auch) nach dem Wirtschaftlichkeitsprinzip zu erbringen? (6) Haben Erbschaften vielleicht doch eine volkswirtschaftliche Bedeutung – nämlich aus Sicht des Erblassers, der sein Vermögen sonst im Alter verprassen würde? (7) Ist die relative Armutsbetrachtung zu nationalistisch gedacht? Müssten Umverteilungs-Befürworter nicht zunächst an die vielen Super-Armen in Entwicklungsländern denken, bevor sie den heimischen Hartz IV-Empfänger finanziell besserstellen? Also insgesamt viel Stoff für weiterführende Debatten nach Ende der Veranstaltung.
Quellen:
[1] Dieses und alle weiteren wörtlichen Zitate stellen Gedächtnisprotokolle von B. Kuhn dar.
[2] Sahra Wagenknecht, „Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten“, Frankfurt/New York 2016.
[3] Beim Bancor handelte es sich um eine internationale Verrechnungseinheit, die auf einem Währungskorb beruhte. John Maynard Keynes hatte ihn 1944 auf der Konferenz von Bretton-Woods erfolglos angeregt.
[4] Gedächtnisprotokoll: (1) Wirtschaftsinstitut, vermutlich DIW in Berlin: 50% der Deutschen verdienen heute real weniger als vor 20 Jahren; (2) Mc Kinsey: 2/3 der Einkommen stagnieren seit 20 Jahren; (3) Paritätischer Wohlfahrtsverband: Deutschland hat einen Armutsrekord erreicht.