Britta Kuhn
EZB und EU-Kommission wollen die Gemeinschaft durch finanzielle Solidarität aus der Corona-Krise führen und stärken. Brüssel erhält mehr zentrale Kompetenzen. Ist das alternativlos?
Mindestens 750 Mrd. € für „Wiederaufbaufonds“
Allein das neue EZB-Programm zur Pandemie-Bekämpfung PEPP sieht für dieses Jahr zusätzlich 1,35 Bio. € Staatsanleihekäufe vor. Es ist flexibler als alles Bisherige, etwa hinsichtlich Sicherheiten, regionaler Verwendung, weiterer Aufstockung und Einsatzdauer (ECB 2020). Daneben verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der EU einen 750 Mrd. € schweren Wiederaufbaufonds aus direkten Transfers und Krediten (Europäischer Rat 2020, v.a. S. 3). Deutschland trüge, konservativ berechnet, 25% der Last, also mindestens 188 Mrd. €. Denn dies entsprach 2019 dem deutschen BIP-Anteil an der EU-27. Zum BIP des Euroraums trug Deutschland sogar 29% bei (Eurostat).
Der Fonds soll aus dem EU-Haushalt finanziert werden – mit eigenen Schulden und mittelfristig auch eigenen Steuern. Beides war bisher verboten. Ökonomisch fragt sich, ob diese Zentralisierung von Aufgaben und Ausgaben dezentralen Lösungen überlegen ist.
Bundesstaat versus Staatenbund
Europäer, die einen Zentralstaat nach US-Vorbild anstreben, haben folgende Visionen:
- Politisch: Wohlstandsmehrung durch Vereinigte Staaten von Europa, d.h. Zentralisierung von Aufgaben und Budgets;
- Gerechtigkeitsverständnis: Solidaritätsprinzip, d.h. Haftung nach dem Gemeinlastprinzip („alle für einen, einer für alle“);
- Föderalismusverständnis: „Wettbewerb der Regionen“ schädigt die Schwachen; Heterogene Politikansätze überfordern Menschen;
- Fiskalpolitik: Die EU darf selbständig Steuern erheben und Schulden machen; Jedes Land haftet voll für alle Schulden (z.B. Eurobonds);
- Geldpolitik: Die einheitliche Währung ist Grundstein der politischen Integration;
- Binnenmarkt: Vehikel für die politische Integration. Er funktioniert nur, wenn Geld-, Fiskal-, Sozialpolitik usw. vereinheitlicht sind.
Bisherige Protagonisten dieser Sicht waren v.a. französische und „südeuropäische“ Regierungen sowie selbstverständlich die EU-Institutionen. Europäern, die in der EU einen Bund souveräner Einzelstaaten sehen, haben folgende Visionen:
- Politisch: Wohlstandsmehrung durch wirtschaftlichen Liberalismus, d.h. möglichst dezentrale Aufgaben- und Budgetallokation;
- Gerechtigkeitsverständnis: Subsidiaritätsprinzip, d.h. Haftung nach dem Verursacherprinzip;
- Föderalismusverständnis: „Wettbewerb der Regionen“ findet für heterogene Voraussetzungen und Präferenzen maßgeschneiderte Lösungen;
- Fiskalpolitik: Nur nationale Steuern und Schulden sowie begrenzte Gemeinschaftshaftung: Jedes Land verliert maximal seinen Anteil (z.B. Europäischer Stabilitätsmechanismus ESM);
- Geldpolitik: Einheitliche Währung krönt die wirtschaftliche Integration (Theorie optimaler Währungsräume);
- Binnenmarkt: Hauptziel der Integration. Freier Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften erhöht den Wohlstand aller EU-Staaten.
Bisherige Protagonisten dieser Sicht waren v.a. britische und „nordeuropäische“ Regierungen.
Vorteil internationale Arbeitsteilung
Der ökonomische Konsens beschränkt sich darauf, dass internationale Arbeitsteilung den Wohlstand aller Beteiligten erhöht: v.a. durch Freihandel, ergänzt um die mobilen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital. In der Europäischen Union funktioniert Freihandel relativ gut: So exportierte Deutschland letztes Jahr 57% seiner Waren- und Dienstleistungen in die EU-Partnerländer – eine Steigerung von nominal 16% seit 2015 trotz eines fünfprozentigen Rückgangs in das Vereinigte Königreich (UK). Die 43% Ausfuhren an den Rest der Welt waren nur um 11% gestiegen. Speziell das Brexit-Referendum verdeutlicht die verheerende Wirkung von (drohenden) Handelsschranken speziell für die Exportnation Deutschland: 2015 noch zweitwichtigster deutscher Zielmarkt nach den USA, rutschte UK 2019 auf Platz 4 hinter Frankreich und China (Deutsche Bundesbank und Destatis 2020).
Umstritten: Wohlfahrtsgewinn durch Zentralisierung
Ob eine starke wirtschaftspolitische Zentralisierung die Wohlfahrt der Bevölkerung eher fördert als dezentrale Strukturen, ist dagegen empirisch schwer nachweisbar. Zum einen gibt es offensichtliche Zielkonflikte zwischen Größenvorteilen und den Nachteilen steigender Heterogenität (Alesina und Spolaore 2005, S. 3 ff.). Andernfalls könnten z.B. die riesigen USA und das winzige Island nicht beide zum Club der reichen OECD-Länder gehören. Zweitens werfen Zeitreihen zur Wohlstandsentwicklung mit und ohne Integration methodische Probleme auf: Mangels Kontrollgruppe lässt sich z.B. nur schwer überprüfen, ob sich Island mit EU, Euro und Freizügigkeit von Arbeitskräften wirtschaftlich besser entwickelt hätte als unter den Freihandelsregeln der WTO.
Aus der Public-Choice-Forschung wissen wir aber: Politiker nutzen Krisen schon immer dafür, Projekte voranzutreiben, die in normalen Zeiten chancenlos sind. 1863 formulierte Adolph Wagner dies als „Gesetz der wachsenden Staatsausgaben“. Demnach erhöht sich in Krisen der Staatsanteil absolut und relativ. Nach der Krise sinkt dieser Anteil nicht auf die ursprüngliche Höhe (Eggert o.D.). Dieser displacement effect wurde erstmals für das Vereinigte Königreich zwischen 1890 und 1955 empirisch nachgewiesen (Peacock und Wiseman 1961, S. 43). Er gilt längst auch für die europäische Geldpolitik, die seit der Finanzkrise zunehmend fiskalpolitisch agiert und neuerdings auch soziale und ökologische Ziele anstrebt. Die EU-Kommission schließlich sieht sich erst am Anfang ihrer Zentralisierungspläne: Binnenmarktkommissar Thierry Breton möchte Staatshilfen von insgesamt 6 Bio. € aufbringen – auch durch neue, gemeinschaftliche Finanzierungsinstrumente (Breton 2020).
Alesina, Alberto; Spolaore, Enrico (2005): The size of nations. 1. MIT Press paperback ed. Cambridge, Mass.
Breton, Thierry (2020): Wir müssen Europa als Ganzes retten. In: Handelsblatt, 03.04.2020 (Nr. 67), S. 11.
Deutsche Bundesbank; Destatis (2020): Außenhandel und Dienstleistungen der Bundesrepublik Deutschland mit dem Ausland. Integrierte Daten für den Berichtszeitraum 2015 bis 2019, Tab. III A.
ECB (2020): ECB announces €750 billion Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) (Press release 18.3.2020).
Eggert, Wolfgang (o.D.): Wagnersches Gesetz. Gabler Wirtschaftslexikon. Online verfügbar unter https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/wagnersches-gesetz-49680, zuletzt geprüft am 08.06.2020.
Europäischer Rat (2020): Außerordentliche Tagung des Europäischen Rates (17., 18., 19., 20. und 21. Juli 2020) – Schlussfolgerungen. EUCO 10/20. Brüssel.
Eurostat: Data browser. Gross domestic product at market prices. Online verfügbar unter https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/tec00001/default/table?lang=en, zuletzt geprüft am 08.06.2020.
Peacock, Alan T.; Wiseman, Jack (1961): The Growth of Public Expenditure in the United Kingdom: Princeton University Press.