Britta Kuhn
„Türkei – Schlüsselakteur für die EU?“ von Neuss und Nötzold; „Begegnungen mit der Türkei: Geschichte, Kultur, Politik“ von Lerch; „Die Türkei im Dschungel der internationalen Beziehungen“ von Yıldız und Özalp: Diese Bücher beleuchten Hintergründe. Im Fachbuchjournal von Juni 2020 stelle ich sie ausführlich vor.[1] Hier ein erster Einblick.
Türkische EU-, Innen- und regionale Außenpolitik
Im Tagungsband von Neuss und Nötzold erläutern vornehmlich Politikwissenschaftler das Verhältnis der Europäischen Union zur Türkei, die innenpolitische Lage des Landes seit dem Putschversuch 2016 und Erdoğans Außenpolitik in der Region. Teil 1 bietet Einblicke in die wechselvollen Beziehungen der Türkei zur EU und ihren Mitgliedsstaaten. So wird der Flüchtlingspakt detailliert behandelt oder Ankaras Rolle in der NATO. Teil 2 beschreibt den Putschversuch und analysiert seine Folgen. Dabei kommen diverse Blickwinkel zum Zuge. Westlichen Lesern wird u.a. klar, warum die Gülen-Bewegung für die neuen wirtschaftlichen Eliten Anatoliens attraktiv wurde, bevor es zum Bruch mit Erdoğan kam: Traditionell-islamische Moralvorstellungen ließen sich mit Erfolgsstreben in der globalen Marktwirtschaft verbinden. Teil 3 leitet den Kurdenkonflikt historisch her, Ankaras gewandelte Außenpolitik in der Region – zum Beispiel gegenüber Ägypten oder in Syrien – und den Beziehungsstatus zur russischen und US-Regierung. Insgesamt bieten die Buchbeiträge kontroverse Ansichten, etwa zum Putschversuch, und einen guten Überblick über die Rolle der Türkei in einer geostrategisch wichtigen Weltregion. Zusammenfassungen und einfache Formulierungen sind allerdings Mangelware.[2]
Kulturgeschichte seit dem Osmanischen Reich
Der ehemalige Journalist Lerch verwebt seine persönlichen Türkei-Eindrücke mit sprach-, literatur- und religionswissenschaftlichen Betrachtungen des Landes und seiner Vorläufer. Sein Resümé: „Die türkische Gesellschaft ist, wenn auch reduziert, noch immer ein Osmanisches Reich im Kleinen, was ihre ethnische und religiöse Zusammensetzung betrifft.“ Die rund 30 Beiträge seines Buches bieten ein kulturgeschichtliches Potpourri. Besonders interessant lesen sich z.B. Atatürks Sprachreformen, Erdoğans Wirtschaftspolitik in religionswissenschaftlicher Einordnung und die gesellschaftliche Polarisierung zwischen „schwarzen“ und „weißen“ Türken. (Stark vereinfacht sind „schwarze“ Türken anatolisch-konservative Muslime, während es sich bei „weißen“ Türken um das moderne, großstädtische Bürgertum handelt.) Das Osmanentum erlebe nicht erst seit Erdoğan eine Renaissance. Der gesellschaftliche Wandel resultiere aus umfassenden politisch-kulturellen Verwerfungen der letzten 100 Jahre. Im Klartext: 600 Jahre Osmanischer Einflüsse habe Atatürk in seinen nur 15 Herrschaftsjahren nicht einfach ausradieren können. Auch den Kurdenkonflikt leitet Lerch historisch ab. Er bezeichnet die Kurden als „Vergessene Nation“ mit mindestens 35 Mio. Betroffenen, setzt sich aber auch mit dem PKK-Terror seit den 1980er Jahren kritisch auseinander. Schließlich lernen westliche Leser, welche historischen Verstrickungen zum andauernden Konflikt um Zypern führten. Positiv: Das Buch analysiert differenziert – bei aller offensichtlichen Türkei-Liebe seines Autors. Allerdings hätte den zahllosen anekdotischen Reiseberichten aus 50 Jahren eine Kürzung gutgetan.[3]
Bilaterale Nachbarschaftsbeziehungen der Türkei
Im Sammelband von Yıldız und Özalp erklären sieben türkische Politikwissenschaftler die generelle Außenpolitik und das spezielle Verhältnis Ankaras zu Israel, Katar, Zypern und Syrien. Auch die türkische Pipeline-Politik und die Perspektive des Landes als Regionalmacht finden Beachtung. Ein Beitrag betont z.B., wie wichtig die Türkei als geostrategische Brücke zwischen Ost und West sei – nicht nur als Transitland für Energie, sondern auch als Regionalmacht gegenüber Nachbarn wie Iran, Griechenland, Bulgarien und Russland. Ein anderer erklärt, wie und warum sich die türkische Nahostpolitik unter Erdoğan von der NATO-USA-Achse gelöst habe. Das Fundament der guten Beziehung zu Katar wird aus der britisch-osmanischen Geschichte der arabischen Halbinsel abgeleitet, der Syrienkrieg umfassend nachgezeichnet. Besonders interessant ist das Kapitel über die Öl- und Gaspipelines des südlichen Korridors, mit denen sich die Türkei seit den 1990er Jahren zu einer geostrategisch wichtigen Energiebrücke zwischen östlichen Energieproduzenten und westlichen Energiekonsumenten entwickelt hat. Teilweise liefert der Sammelband Interpretationen, die zumindest für mitteleuropäische Leser gewöhnungsbedürftig sind, etwa eine rein türkische Sicht auf die Kurden in Nordsyrien oder auf Zypern. Auch hätte das Buch unbedingt ein sprachliches und inhaltliches Lektorat verdient.
[1] Britta Kuhn, „Begegnungen mit der Türkei“, Fachbuchjournal 3.2020, S. 46-49.
[2] Beate Neuss und Antje Nötzold (Hrsg.), „Türkei – Schlüsselakteur für die EU? Eine schwierige Partnerschaft in turbulenten Zeiten“, Schriftenreihe des Arbeitskreises Europäische Integration e.V., Band 103, Nomos Verlagsgesellschaft, 2018.
[3] Wolfgang Günter Lerch, „Begegnungen mit der Türkei: Geschichte, Kultur, Politik. Fünf Jahrzehnte zwischen Bosporus und Ararat“, Verlag Frank & Timme, 2019. Resümé-Zitat: S. 240, Kurden-Zitat: S. 237.
[4] Mustafa Yıldız und Mustafa Özalp (Hg.), „Die Türkei im Dschungel der internationalen Beziehungen“, Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag, Reihe Politikwissenschaft, Bd. 84, 2019. Einseitige Sicht auf Kurden in Nordsyrien: S. 22 f.; Auf Zypern: S. 102. Lektorat: z.B. „Sowjetunion“ statt Russland auf S. 16, türkisch-katarischen Beziehungen auf Basis von Bild-Zeitung oder sputniknews.