Britta Kuhn
Im Februar und Mai 2013 stellte dieser Blog neuere wachstumskritische Bücher vor. Hier folgt Literatur, die aus der Finanzkrise entstand und die real existierende „Markt“-Wirtschaft westlicher Industrieländer reformieren will. Nicht alle Werke sind „links“ (z.B. Admati/Hellwig), manche sehr lesenswert (z.B. Admati/Hellwig, Felber, Peukert oder Wagenknecht), andere nur von bekannten Autoren (z.B. Schirrmacher).
Autoren |
Kurztitel |
Wertung |
Admati/Hellwig | The bankers‘ new clothes |
+++ |
Chang, Ha-Joon | Things they don’t tell you about capitalism |
0 |
Felber, Christian | Gemeinwohl-Ökonomie |
++ |
Graeber, David | Debt |
0 |
Leggewie/Welzer | Das Ende der Welt, wie wir sie kannten |
0 |
Minsky, Hyman P. | Instabilität und Kapitalismus |
+ |
Peukert, Helge | Die große Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise |
++ |
Sandel, Michael J. | Was man für Geld nicht kaufen kann |
++ |
Schirrmacher, Frank | EGO |
0 |
Streeck, Wolfgang | Gekaufte Zeit |
0 |
Vogl, Joseph | Das Gespenst des Kapitals |
0 |
Wagenknecht, Sahra | Freiheit statt Kapitalismus |
++ |
Weck, Roger de | Nach der Krise |
+ |
Admati/Hellwig, The bankers’ new clothes[1]
Die Stanford-Professorin für Finance and Economics und der Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn argumentieren, dass eine Eigenkapitalquote von 20-30% bezogen auf sämtliche Aktiva von großem volkswirtschaftlichem Nutzen wäre. Mehr Bankenregulierung führe keineswegs zu weniger Wachstum oder einer Kreditklemme, wie die Bankenlobby bisher erfolgreich behauptet. Die beiden Ökonomen entlarven das noch längst nicht umgesetzte Regulierungswerk Basel 3 als viel zu lasch.
Das Buch ist insbesondere für (Finanz-)Laien uneingeschränkt lesenswert. Es erklärt leicht verständlich die oft unbekannten Zusammenhänge der Bankbilanz. So versteht am Ende jeder, warum z.B. die Deutsche Bank 2011 nur lächerliche 2,5% Eigenkapitalpuffer auf sämtliche Aktiva vorhielt[2], was in Industrieunternehmen undenkbar wenig wäre, obwohl diese im Gegensatz zu großen Finanzdienstleistern nicht „systemrelevant“ sind. Die überragende wissenschaftliche Reputation und Sachorientierung der beiden Autoren, in Europa v.a. des 64-jährigen Hellwigs, macht ihre Kritik außerdem sehr gewichtig: Hier ideologisieren nicht verlängerte Arme einflussreicher Lobbyisten. Hier argumentieren zwei Spitzen-Volkswirte, die über jeden Zweifel politischer Manipulierbarkeit erhaben sind und nur das Gemeinwohl verfolgen. Umso erschütternder ihre erbarmungslose Abrechnung mit dem bisher politisch Erreichten: „Today’s banking system, even with proposed reforms, is as dangerous and fragile as the system that brought us the recent crisis.“[3] Kritisieren könnte man höchstens die geradezu gebetsmühlenhafte Wiederholung der Kernbotschaft, dass 20-30% echtes Eigenkapital für Banken der Volkswirtschaft nicht schade, sondern ihr nütze. Aber diese Botschaft hat die Politik offenbar noch nicht vernommen, weshalb sich die Autoren nun direkt an die Bürger wenden.
Chang, Things they don’t tell you about capitalism[4]
Der Ökonomieprofessor aus dem britischen Cambridge räumt mit 23 Mythen der traditionellen wirtschaftspolitischen Debatte auf. Er ist kapitalismuskritisch, sucht aber keineswegs den Systemwechsel. Interessant ist z.B. seine empirische Evidenz, dass die skandinavischen Volkswirtschaften trotz ihres ausgeprägten Wohlfahrtsstaates stärker wuchsen als die USA. Anderes hat dagegen weniger Neuigkeitswert oder wirkt geradezu trivial, etwa die Erläuterung, warum es in Industrieländern weniger Haushaltshilfen als in armen Ländern gibt[5].
Der gebürtige Südkoreaner schreibt pointiert, verständlich und erfrischend anders aus der Perspektive eines Einwanderers, z.B. wenn er über weltweit freie Mobilität von Menschen nachdenkt. Eine Zusammenfassung am Ende des Buches bringt die Reformvorschläge des (fast) 50-Jährigen auf den Punkt: So ähnele der Kapitalismus einem Auto. Dieses könne Menschenleben töten, wenn der Fahrer betrunken sei, aber auch Menschenleben retten, weil es im Notfall schnell ins Krankenhaus gelange. Erstrebenswert seien kluge Regulierungen der kapitalistischen Wirtschaft, etwa ein Verbot komplexer Finanzinstrumente, die langfristig nicht nachweislich dem Gemeinwohl dienten. Ähnlich den bereits existierenden Lebensmittel- und Arzneimittelstandards[6].
Felber, Gemeinwohl-Ökonomie[7]
Der österreichische Autor ist ein einflussreicher Globalisierungskritiker und Vordenker der Bewegung http://www.gemeinwohl-oekonomie.org. Er sieht einen Werte-Widerspruch zwischen der kapitalistischen Wirtschaft und unserer Gesellschaft: In der Wirtschaft strebten konkurrierende Unternehmen nach maximalem Finanzgewinn, dies sei eine „Win-Lose-Situation“. Im zwischenmenschlichen Bereich kooperierten und teilten wir dagegen ganz solidarisch und nur das mache uns am Ende glücklich. Der attac-Mitbegründer möchte deshalb die Wirtschaft wie private Beziehungen organisieren: Sie soll sich am „Gemeinwohl“ orientieren. Die hierfür erforderlichen Veränderungen arbeitet er detailliert aus. Im Zentrum steht eine „Gemeinwohlbilanz“[8], die jedes Unternehmen aufstellen müsste. Die Finanzbilanz wäre dagegen nur noch eine Nebenbilanz. Unternehmen erhielten den konkreten Anreiz, Werte wie Menschenwürde oder ökologische Nachhaltigkeit statt Geldgewinn zu maximieren und Stakeholder wie Beschäftigte und Kunden an allen Entscheidungen teilhaben zu lassen. Überhaupt macht sich der 40-jährige Felber durchweg für mehr Privatinitiative, Demokratie und wirtschaftliche Teilhabe stark.
Das Buch regt außerordentlich zum Denken an, ohne dass man letztlich jede Aussage teilen müsste. So gibt es z.B. durchaus inspirierende und motivierende Konkurrenzsituationen in Wirtschaft, Sport und Privatleben. Auch sind unsere persönlichen Beziehungen sicher nicht überall so idyllisch und selbstlos wie von Felber skizziert. Der Autor selbst setzt sich ausführlich und ernsthaft mit den wichtigsten Gegenargumenten auseinander. Er verlangt auch keinen sofortigen Systemwechsel. Allerdings ist seine Argumentation an vielen Stellen stark von der marxistischen Arbeitswertlehre geprägt. Wer diese Theorie vollständig ablehnt, wird mit seinen Vorschlägen weniger anfangen können. Eiligen Lesern bietet Felber im letzten Buchkapitel eine prägnante Zusammenfassung auf nur gut fünf Seiten.
Graeber, Debt[9]
Der in London lehrende amerikanische Anthropologe erklärt die Menschheitsgeschichte nicht als bilaterale Tauschbeziehung im Sinne Adam Smith’s, sondern als einseitig unterdrückende Schuldbeziehung. Schulden begründeten Abhängigkeiten, die Gläubiger kontrollierten dadurch die Schuldner. Diesen Zusammenhang führt er auf über 500 Seiten (deutsche Fassung: 600 Seiten) aus.
Das Buch dürfte Ökonomen wenig geben. Denn es verzichtet auf systematische Strukturen, konkrete empirische Befunde und schnellen Erkenntnisfortschritt. Auch ignoriert es den Unterschied zwischen „Verschuldung aus Stärke“ (Investitionen des Schumpeter’schen schöpferischen Unternehmers) und „Verschuldung aus Schwäche“ (zu Konsumzwecken jenseits der eigenen, langfristigen Einkommensmöglichkeiten). Graebers Kernbotschaft „Kapitalismus = versklavende Schuldengesellschaft“ lässt sich daher in dieser Absolutheit nicht nachvollziehen. Geisteswissenschaftler dagegen lesen Graebers Ausführungen offenbar mit Gewinn. So feierte z.B. das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung das Werk als „das beste Buch zur Lage“[10]. Auch gilt der Anfang 50-Jährige als eine der intellektuellen Leitfiguren der Occupy-Bewegung. Schließlich scheint seine Versklavungsthese die Situation z.B. Griechenlands in der europäischen Staatsschuldenkrise treffend zu beschreiben. Denn dort stellt eine demokratisch nicht legitimierte „Troika“ aus EZB, EU-Kommission und IWF die Bedingungen. Aber selbst kritische Volkswirte sehen hier auch Staatsversagen, Konstruktionsmängel der Europäischen Währungsunion und langjährige Überkonsumption als Ursache der Misere. Und wer hier wen versklavt hat, ist auch noch nicht klar.
Leggewie/Welzer, Das Ende der Welt, wie wir sie kannten[11]
Der Politikwissenschaftler Leggewie ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Der Soziologe Welzer war dort zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung Projektleiter und Professor für Sozialpsychologie an der Uni Witten/Herdecke. Die Autoren befürchten einen Systemzusammenbruch und fordern statt Systemkorrekturen einen radikalen Richtungswechsel: „Eine Gesellschaft, die die Krise verstehen und meistern will, kann sich nicht mehr auf Ingenieurskunst, Unternehmergeist und Berufspolitik verlassen (die alle gebraucht werden), sie muss – das ist die zentrale These unseres Buches – selbst eine politische werden: Eine Bürgergesellschaft (…), deren Mitglieder sich als verantwortliche Teile eines Gemeinwesens verstehen, das ohne ihren aktiven Beitrag nicht überleben kann.“[12]
Die Autoren, Jahrgang 1950 bzw. 1958, bieten vereinzelt interessante Gegenüberstellungen. So sei uns beispielsweise die Verringerung der Kindersterblichkeit weltweit pro Jahr 15 Mrd. US-Dollar wert, der deutsche SoFFin-Bankenrettungsfond habe dagegen im April 2009 200 Mrd. US-Dollar bewilligt bekommen. Auch sehen sie das Internet kaum als Schritt zu mehr politischer Teilhabe[13]. Ansonsten aber bietet dieses Werk denjenigen wenig Erkenntnisgewinn, die sich für konkrete Veränderungen interessieren. Denn die Analyse konzentriert sich auf oftmals ziemlich bekannte Zusammenhänge, anstatt im Einzelnen zu erläutern, wie das Demokratiedefizit denn nun abzubauen wäre.
Minsky, Instabilität und Kapitalismus[14]
Der Berliner Literaturprofessor Joseph Vogl fasst in diesem Büchlein Minskys Kapitalismuskritik auf wenigen Seiten zusammen und druckt anschließend dessen beiden wichtigsten Aufsätze in deutscher Übersetzung ab, nämlich „Die Hypothese der finanziellen Instabilität“ und „Finanzielle Instabilität“. Hyman Minskys Kritik aus der Hoch-Zeit des Keynesianismus wurde im Zuge der Finanzkrise wiederentdeckt, stellt sie doch den Kontrapunkt zur bis dahin dominanten Effizienzmarkthypothese dar und erklärt wie keine andere Theorie die 2007 ff. beobachtete Kettenreaktion. Im Kern behauptete der 1996 verstorbene US-amerikanische Ökonomieprofessor nämlich, dass Krisen und Zusammenbrüche nicht durch äußere Ereignisse hervorgerufen werden, sondern systemimmanent entstehen: In Zeiten stabilen Wachstums überstiegen die Investitionen deren Finanzierung immer stärker, der Endpunkt dieser Verschuldungseuphorie sei ein hochriskantes Schneeballsystem, dessen labile Spekulationsblase plötzlich platze.
Zur ersten Orientierung ist Vogls Zusammenfassung hilfreicher als die beiden Einzelaufsätze. Er ebnet damit einem breiten und jüngeren Publikum den Zugang zu Minskys lange ignorierter Kapitalismuskritik. Ökonomen, die ein tieferes Verständnis suchen, sollten allerdings direkt zu Minskys Aufsätzen springen.
Peukert, Die große Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise[15]
Der außerplanmäßige Finanzwissenschaftsprofessor der Universität Erfurt kritisiert den bisherigen Umgang mit der Finanzkrise als völlig unzureichend. Insbesondere die Interpretation des volkswirtschaftlichen Mainstreams, der Finanzmärkte für stabil und effizient hält, lehnt das Mitglied der Postautisten ab. Diese Bewegung hatten französische Wirtschaftsstudierende schon vor der Finanzkrise gegründet, um ihre Wissenschaft realitätsnäher und unabhängiger von der neoklassischen Wirtschaftstheorie zu machen[16]. Peukert, der auch Soziologie studiert und in Philosophie promoviert hat, verweist auf heterodoxe Erklärungsmuster von Ökonomen wie Veblen, Keynes, Galbraith, Minsky, Roubini oder Taleb und präsentiert viele weitere Alternativansätze, etwa aus Wirtschaftsgeschichte und Verhaltensökonomik. Auf dieser breiten Grundlage schlägt er drastische Reformen vor, z.B. das „Vollgeld“, bei dem Banken keine Geldschöpfung mehr betreiben könnten, eine Größenbegrenzung für Banken, die Aufspaltung von Geschäfts- und Investmentbanken, wesentlich höhere Eigenkapitalanforderungen und massive Einschränkungen im Derivatehandel. Alles in allem möchte der 56-Jährige den Finanzsektor wieder gesundschrumpfen und möglichst einfache, beherrschbare Regulierungen, die sich stark auf negative Extremereignisse konzentrieren („fat tails“ und sog. „fail-save strategy“[17]). Am Ende analysiert das attac-Beiratsmitglied auch die europäische Staatschuldenkrise und ihre „Rettungsschirme“, zu denen er ebenfalls alternative Lösungswege vorschlägt.
Der Text mit fast 600 Seiten und das Literaturverzeichnis mit über 50 Seiten dürften v.a. Menschen ansprechen, die sich ernsthaft für Erklärungen der Finanzkrise interessieren und vielfältige theoretische Alternativen zum herrschenden wirtschaftswissenschaftlichen Denken suchen. Es ist ein großes Verdienst Peukerts, diese zahlreichen, oftmals verschütteten Erklärungsmuster in derartiger intellektuellen Breite zusammengetragen zu haben. Auch seine konkreten Reformvorschläge für stabilere Finanzmärkte verdienen viel mehr politische Beachtung. Extra für eilige Leser bietet der Autor am Buchanfang außerdem eine nur siebenseitige Zusammenfassung. Trotz seines Verzichts auf komplexe Modelle ist das Grundlagenwerk jedoch schwere Kost. Lange Sätze mit unnötig vielen Fremdwörtern, keinerlei Zwischenstrukturen und die hohe Informationsdichte dürften selbst höchst motivierte (Bildungs-)Bürger schnell erschöpfen.
Sandel, Was man für Geld nicht kaufen kann[18]
Der Philosophie-Professor der Harvard-Universität belegt mit zahlreichen Beispielen, wie sich westliche Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten von einer Marktwirtschaft zu einer Marktgesellschaft gewandelt haben. Diesen Prozess möchte er gesellschaftlich diskutieren. Denn aus seiner Sicht sprechen Fairness und Korruption gegen eine reine Marktgesellschaft, wie er am Beispiel Prostitution besonders eingängig erläutert: „Manche Leute sind deshalb gegen Prostitution, weil sie selten oder vielleicht nie wirklich freiwillig ausgeübt wird. (…)Andere wiederum sind gegen Prostitution, weil sie für Frauen entwürdigend sei, ob sie nun dazu gezwungen würden oder nicht.“[19] Nach Sandel sollten wir viel bewusster und präziser darüber nachdenken, welche Rolle „die Märkte“ in unserem persönlichen und gesellschaftlichen Leben spielen sollen. Wollen wir wirklich, dass alles käuflich wird? Denn die fortschreitende Kommerzialisierung von Tauschhandlungen verdränge gesellschaftliche Werte, wie die neuere Forschung eindrücklich belege.
Sandels Buch sagt im Kern wenig Neues und wiederholt sich oft. Es ist aber sehr unterhaltsam geschrieben und mit vielen geradezu absurden Beispielen garniert (z.B. Vermietung der Stirn zu Werbezwecken). In jedem Fall öffnet es die Augen für die schleichende Vermarktung sämtlicher Lebensbereiche.
Schirrmacher, EGO[20]
Der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Chefredakteur des Feuilletons stellt den „Informationskapitalismus“ in den Mittelpunkt seiner Kritik. Dessen „Raubtieralgorithmen“ hätten seit dem kalten Krieg in Verbindung mit dem Leitbild des homo oeconomicus und der Spieltheorie sämtliche Lebensbereiche erfasst. Er verändere „konstitutionelle und völkerrechtliche Ordnungen“[21]. Diesen Leitgedanken exemplifiziert der 54-jährige Geisteswissenschaftler anschließend auf über 300 Seiten Fließtext.
Schirrmachers interessante Leitidee vom alles überwachenden und infiltrierenden „Informationskapitalismus“ wurde in den Medien ausführlich diskutiert. Das Buch insgesamt gerät aber eher zu einem strukturlosen Gedanken-Sammelsurium mit restlos übertriebenen Verschwörungstheorien. Reißerische Kapitelüberschriften wie „Trance“ oder „Monster“ bieten keinen Erkenntnisgewinn, die unzähligen Anekdoten ermüden und das umfangreiche Quellenverzeichnis enthält zumindest bei der ökonomischen Literatur wenig Einschlägiges. Inhaltlich hinterlässt das Werk viele Fragezeichen, etwa, wenn es den Siegeszug des aus dem 19. Jahrhundert stammenden homo oeconomicus erst mit dem Kalten Krieg assoziiert. In Summe verdeutlicht dieses Buch vor allem, dass es im „Informationskapitalismus“ weniger auf Inhalte ankommt, aber umso mehr auf den Bekanntheitsgrad des Autors und die ihn begleitende Vermarktungs-Maschinerie.
Streeck, Gekaufte Zeit[22]
Der Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln analysiert die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise als Krise des demokratischen Kapitalismus. Sie sei „der vorläufige Endpunkt der langen neoliberalen Transformation des Nachkriegskapitalismus. Inflation, Staatsverschuldung und Privatverschuldung waren zeitweilige Notbehelfe“. Der Buchtitel soll dies verdeutlichen: Schon immer sei die kapitalistische Krise durch Geld, sprich: Verschuldung, vertagt worden[23]. Schön plakativ unterscheidet der Soziologieprofessor das „Staatsvolk“ und das „Marktvolk“ des demokratischen Schuldenstaats: Hier z.B. Bürger, Bürgerrechte, Wahlen und Daseinsvorsorge, dort Investoren, Forderungen, Auktionen und Schuldenbedienung[24]. Auch seziert er das aktuelle Demokratiedefizit der Euro-Rettungspolitik. Allerdings schreibt der 1946 geborene Streeck sehr abstrakt und entwickelt selten konkrete Handlungsalternativen. Vornehmlich Vertreter marxistischer Krisentheorien dürften daher der Lektüre etwas abgewinnen.
Vogl, Das Gespenst des Kapitals[25]
Der 1957 geborene Literaturwissenschaftler kritisiert in seinem Essay die herrschende ökonomische Lehre aus kulturwissenschaftlicher Sicht. Er diagnostiziert Irrationalitäten an den Finanzmärkten nicht als Ausnahme, sondern Regel der kapitalistischen Ökonomie. Besonders interessant sind insofern die Kapitel zu den Finanzmärkten und zur Finanzkrise.
Freunden langer und intellektuell aufgeladener Fließtexte bietet der Essay wertvolle, da fundiert kritische Einsichten in die oft realitätsfernen Grundannahmen der neoklassischen Volkswirtschaftslehre. Wer schnellen und griffigen Erkenntnisgewinn sucht, ist hier dagegen falsch.
Wagenknecht, Freiheit statt Kapitalismus[26]
Spätestens durch dieses Buch erreichte die führende Politikerin der Partei DIE LINKE breite intellektuelle Anerkennung im bürgerlichen Establishment. Die erste Hälfte seziert die Fehler des modernen Finanzkapitalismus, insbesondere die unzureichende Haftung für Risiken, die Abkehr von Realwirtschaft und Leistungsgesellschaft, zu wenig Investitionen und Innovationen, undemokratische Prozesse und private Machtkonzentration. Dies alles habe mit Ludwig Ehrhards „Wohlstand für alle“ und einer sozialen Marktwirtschaft nichts mehr zu tun. In der zweiten Buchhälfte entwickelt Wagenknecht ein in sich schlüssiges Gegenkonzept, z.B. weniger Verschuldung durch massive Besteuerung bzw. Enteignung der Reichen, rein staatliche und umlagefinanzierte Sozialversicherungen, Verstaatlichung von Banken und anderer wichtiger Großkonzerne, Rückkehr zu kommunalen Versorgern, Kampf gegen private Monopole und weniger Globalisierung.
Über Wagenknechts Vorschläge lässt sich auf hohem Niveau streiten. So lobt die 44-Jährige z.B. den deutschen Mittelstand, was gerade aus linker Sicht unverständlich ist. Denn mittelständische Unternehmer handeln häufig sehr eigenmächtig ohne Betriebsrat und bezahlen ihre Arbeitskräfte in der Regel wesentlich schlechter als z.B. Großkonzerne der Automobilindustrie. Auch Wagenknechts Argumentation für politisch kontrollierte Staatsbanken wirkt angesichts des Landesbanken-Desasters etwas naiv oder uninformiert. Denn hier versagten ausgerechnet die politischen Aufsichtsräte aus fachlicher Inkompetenz. Die Erinnerung an Ludwig Erhardt dürfte schließlich eher ein Vermarktungs-Trick sein. Das Buch ragt aber intellektuell über sämtliche Werke aktiver Politiker hinaus und bietet im Detail viele konkrete Verbesserungsansätze, die eine ernsthafte Diskussion verdienen.
De Weck, Nach der Krise[27]
Der ehemalige ZEIT-Chefredakteur im Wirtschaftsressort will den Kapitalismus grundlegend erneuern in Richtung einer ökologischen und sozialen Marktwirtschaft, die langfristig orientiert ist und neben Eigennutz auch gesellschaftliche Verantwortung kennt. Das journalistisch geschriebene Buch bietet v.a. in den Kapiteln 5-7 konkrete Reformvorschläge im Sinne des Ordoliberalismus, z.B. Selbstbehalte, persönliche Haftung und eine strenge Bankenaufsicht wie in Kanada, Schweden und Australien[29]. Jedes Kapitel endet mit einem plakativen Fazit, wie der Kapitalismus im Einzelnen z.B. ausgewogener, demokratischer, stabiler, nachhaltiger und liberaler gestaltet werden könnte[29]. Wissenschaftlich interessierte Leser könnte der manchmal reißerische und etwas allgemein gehaltene Stil irritieren. Das Buch wurde sichtbar mit heißer Nadel gestrickt. Es stellt eher einen Essay dar und enthält keine Quellenangaben.
Quellen:
[1] Anat Admati und Martin Hellwig, “The bankers‘ new clothes: what’s wrong with banking and what to do about it”, Princeton/Oxford 2013. Die deutsche Übersetzung „Des Bankers neue Kleidung“ erscheint in Kürze.
[2] Anat Admati und Martin Hellwig, a.a.O., S. 176.
[3] Anat Admati und Martin Hellwig, a.a.O., S. xi f.
[4] Ha-Joon Chang, „23. Things they don’t tell you about capitalism“, New York 2010. Die deutsche Übersetzung “23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen“ erschien 2012.
[5] Ha-Joon Chang, a.a.O., S. 228 f. bzw. S. 33.
[6] Ha-Joon Chang, a.a.O., “Conclusion”, hier S. 253-255.
[7] Christian Felber, „Gemeinwohl-Ökonomie. Das Wirtschaftsmodell der Zukunft“, Wien 2012.
[8] Christian Felber, a.a.O., S. 42 f. Die weiterentwickelte Matrix findet sich unter http://www.gemeinwohl-oekonomie.org/sites/default/files/GWOe-Matrix-4.1..pdf (Abruf 18.09.2013).
[9] David Graeber, „Debt. The first 5000 years“, New York 2011. Die deutsche Übersetzung “Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ erschien 2012.
[10] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, “Lob des Kommunismus”, 13.05.2013, S. 29 (Vorabdruck).
[11] Claus Leggewie und Harald Welzer, „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie“, Frankfurt am Main 2009.
[12] Claus Leggewie und Harald Welzer, a.a.O., S. 13.
[13] Claus Leggewie und Harald Welzer, a.a.O., S. 54 bzw. S. 219.
[14] Hyman P. Minsky, „Instabilität und Kapitalismus“, Zürich 2011.
[15] Helge Peukert, „Die große Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise. Eine kritisch-heterodoxe Untersuchung“, 3. ergänzte und aktualisierte Auflage, Marburg 2011.
[16] Überblick zur post-autistischen Ökonomie bzw. Real World Economics: Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Post-autistische_%C3%96konomie (Abruf 18.09.2013). Details und Aktuelles: Netzwerk Plurale Ökonomik e.V., http://www.plurale-oekonomik.de/ (Abruf 18.09.2013).
[17] Helge Peukert, a.a.O., v.a. S. 345.
[18] Michael J. Sandel, Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes. 7. Auflage, Berlin 2012. Das Original „What money can’t buy“ erscheint ebenfalls 2012.
[19] Michael J. Sandel, a.a.O., S. 139 f.
[20] Frank Schirrmacher, „EGO. Das Spiel des Lebens“, München 2013.
[21] Frank Schirrmacher, a.a.O., v.a. S. 11 f.
[22] Wolfgang Streeck, „Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“, Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012, Berlin 2013.
[23] Wolfgang Streeck, a.a.O., S. 225 bzw. S. 15.
[24] Wolfgang Streeck, a.a.O., S. 121, Abb. 2.6.
[25] Joseph Vogl, „Das Gespenst des Kapitals“, Zürich 2010.
[26] Sahra Wagenknecht, Freiheit statt Kapitalismus, Frankfurt 2011.
[27] Roger de Weck, „Nach der Krise. Gibt es einen anderen Kapitalismus?“, München 2009.
[28] Roger de Weck, a.a.O., S. 82 f.
[29] Roger de Weck, a.a.O., S. 17, 40, 54, 77 bzw. 89.