ARMUTSMIGRATION SOLLTE AUFNAHME- UND HERKUNFTSGESELLSCHAFTEN NÜTZEN

Britta Kuhn

In „Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen“ plädiert der britische Ökonom Paul Collier für eine gesteuerte Migration, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Belange der Ziel- und Herkunftsländer umfassend berücksichtigt[1].

Auswahlkriterien überdenken

Collier unterscheidet im Grundsatz Kosten und Nutzen der Armutsmigration nach Aufnahmegesellschaften, Migranten und Herkunftsländern. Neben rein ökonomischen bewertet er gesamtgesellschaftliche Wanderungsfolgen für diese drei Gruppen. Von der Armutsforschung kommend, schlägt er im Wesentlichen fünf Steuerungsinstrumente vor: Haushaltsstatus, Qualifikation, Arbeitsmarktfähigkeit, kulturelle Herkunft und Schutzbedürftigkeit. Illegalen Einwanderern sei daneben ein „Gastarbeiter“-Status zu verleihen, Zielkonflikte der Einwanderungspolitik müssten insgesamt stärker durchdacht werden[2].

Zwei Beispiele für seinen Ansatz: Die Arbeitsmarktfähigkeit stellten Unternehmen zielgenauer fest als ein formales Punktesystem, weil potenzielle Arbeitgeber einen relativ hohen Anreiz verspürten, Bewerber genau zu prüfen. Schutzbedürftigkeit gewährleiste ein Asylrecht, das sich auf Bürgerkriege, brutale Diktaturen u.ä. konzentriere, rasch und großzügig arbeite, jedoch zeitlich befristet sei, bis im Heimatland wieder Frieden herrsche[3].

Aus empirischen Befunden lernen

Das Buch wertet zahlreiche Migrationsstudien und historische Beispiele aus: So vereinfache eine nationale Identität, die ethnischen Eigenschaften übergeordnet sei, die Integration erheblich. Die vier nordeuropäischen Staaten beispielsweise kooperierten stark, obwohl sie drei unterschiedlichen Blöcken angehören (nämlich Eurozone, EU, Drittstaat). Interessant auch der Vergleich Tansanias mit Kenia: In Tansania habe Nyerere dank einer nationalen Identität oberhalb der ethnischen Gruppen wesentlich mehr Kooperation erreicht als Kenyatta im ethnisch ähnlich diversifizierten Kenia[4].

Weitere wichtige Einsichten: Ökonomen beschränkten ihre Analysen in aller Regel auf das „Gastarbeiter“-Modell, wenn sie alle weiteren (gesellschaftlichen) Folgen der Migration ignorierten. Überhaupt würden die ökonomischen Vorteile der Einwanderung überschätzt, wie das Beispiel Japans – einem der weltweit reichsten Länder mit nicht nennenswerter Immigration – zeige[5]. Auch konkurrierten Migranten weniger mit einheimischen Arbeitern als untereinander, Heimkehrer brächten Demokratiekenntnisse mit und dienten daher gerade unter den Ungebildeten im Herkunftsland als Veränderungskatalysatoren[6]. Finanzielle Rücküberweisungen an die Daheimgebliebenen würden andererseits überschätzt und zu viel kulturelle Diversität wirke negativ auf Aufnahme- wie Abgabegesellschaften. Immer wieder betont der Wirtschaftswissenschaftler daneben die Pflicht zur „Fürsorge“ der Aufnahmegesellschaften – nicht nur für Migranten, sondern auch für „die riesige Gruppe der in den Herkunftsländern Zurückgebliebenen.“[7]

Schließlich verdeutlicht Collier, dass Produktivitätssteigerungen in armen Ländern zwar wichtig seien, um die exorbitanten Einkommensunterschiede zwischen armen und reichen Ländern zu verringern. Dieser Weg dauere aber zu lange, um in den nächsten Jahrzehnten eine ernsthafte Alternative zur Migration darzustellen[8].

Fazit: Pragmatisch, differenziert, aber auch anekdotisch

„Exodus“ zeigt die Zielkonflikte der Migrationspolitik unideologisch, frei von Sonderinteressen und teilweise fundiert auf. Daneben stehen zahllose Alltagsbetrachtungen von rein anekdotischem Interesse[9]. Auch ist der Autor stark von der neoklassischen Volkswirtschaftslehre geprägt, wenn er zum Beispiel eine theoretische „Migrationsfunktion“ und „Diasporakurve“ generiert oder durchgehend von der „Absorption“ der Aufnahmeländer spricht[10]. Schließlich bleiben viele Ausführungen ungenau, überoptimistisch oder ausschweifend[11]. Insgesamt jedoch handelt es sich um ein wichtiges Buch, das die Einwanderungsdebatte nicht länger fremdenfeindlichen Parteien oder rein ökonomischen Arbeitgeberinteressen überlässt.

 


Quellen:

[1] Paul Collier, Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. Siedler, München 2014. (Originaltitel: Exodus. Immigration and Multiculturalism in the 21st Century, London 2013.)

[2] Paul Collier, a.a.O., S. 275. Details auf S. 275-285.

[3] Paul Collier, a.a.O., S. 276 (Arbeitsmarktfähigkeit) bzw. 277 (Schutzbedürftigkeit).

[4] Paul Collier, a.a.O., S. 25 (Skandinavien) bzw. 253 f. (Tansania versus Kenia).

[5] Paul Collier, a.a.O., S. 142 (“Gastarbeiter”) bzw. 141 (Japan).

[6] Paul Collier, a.a.O., S. 181 (Arbeitsmarktkonkurrenz), 199 (Veränderungskatalysatoren) bzw.

[7] Paul Collier, a.a.O., S. 220 (Rücküberweisungen repräsentieren nur durchschnittlich rund 6% der Einnahmen im Herkunftsland), 258 f. (kulturelle Diversität) bzw. 285 (Fürsorgepflicht).

[8] Paul Collier, a.a.O., S. 43 und 57.

[9] Z.B. zu Mali: Paul Collier, a.a.O., S. 197-199.

[10] Z.B. Paul Collier, a.a.O., S. 50 ff.

[11] Z.B. ungenau: S. 254 (Polen hat den Euro noch nicht eingeführt); Z.B. überoptimistisch: S. 286 (wird die „Nettoimmigration“ in 100 Jahren wirklich deutlich niedriger sein, weil Handel, Informationen und Finanzen viel stärker integriert sein werden?) Z.B. ausschweifend: Kapitel 2 zu den unterschiedlichen Sozialmodellen.

 

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