EU-GEFANGENENDILEMMA ÜBERWINDEN!


Britta Kuhn

Die ökonomische Spieltheorie zeigt, unter welchen Umständen Kooperation egoistischem Verhalten überlegen wäre, aber nicht zustande kommt. EU-Spitzenpolitiker müssen das Dilemma bewältigen, oder die EU wird zerfallen.

Das Gefangenendilemma der EU

Im grundlegenden spieltheoretischen Szenario verraten zwei Häftlinge einander, um jeweils für sich selbst eine niedrigere Strafe zu erreichen. Ihre individuell gefällte Entscheidung stellt beide schlechter, als wenn sie gemeinsam geschwiegen hätten[1]. Aber wie können die getrennt voneinander befragten Sträflinge Vertrauen aufbauen, somit kooperieren und das Dilemma überwinden? Hierbei helfen „Wiederholungsspiele“, aber auch Selbstbindung durch Verträge, die verbindliche Sanktionen bei Verstößen enthalten. Ein recht funktionsfähiges Beispiel stellt die Welthandelsorganisation WTO dar: Die beteiligten Nationen verpflichten sich zu Freihandel statt zu einseitig-egoistischen Handelsbarrieren. Verstöße verfolgt die WTO vergleichsweise unnachgiebig. Selbst große Handelspartner wie USA und EU akzeptieren ihre Schiedssprüche in der Regel.

Einzelnen EU-Mitgliedstaaten scheint das Gefangenendilemma dagegen fremd zu sein. Insbesondere Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Polen wehren sich z.B. gegen eine gemeinsame Flüchtlingspolitik, empfangen aber viel Geld von den Partnern und nutzen deren offenen Märkte intensiv. Auch Deutschland erntet viel Kritik für Alleingänge – seit 2010 mit Belehrungen über Austeritätspolitik, seit 2015 mit der plötzlichen Willkommenspolitik der Bundeskanzlerin. Das Vereinigte Königreich schließlich möchte lediglich Freizügigkeit für Waren, Dienstleistungen und Kapital. Diese Problemhäufung könnte die EU bald zu Grunde richten. Die Freizügigkeit von Gütern und Produktionsfaktoren wäre Geschichte, alle EU-Länder würden sich wirtschaftlich schlechter stellen. Von der friedensstiftenden Funktion der Europäischen Union ganz zu schweigen.

Kooperationsanreize: Finanzen, interne Migration und Binnenmarkt

Unmittelbar disziplinierend könnten umgeleitete Finanzströme innerhalb der EU wirken. Die bisherigen osteuropäischen Zahlungsempfänger würden nur noch Geld gegen Flüchtlinge erhalten. Polen erhielte z.B. netto 0 statt 13,7 Mrd. € pro Jahr aus den EU-Kassen. Auch Ungarn verzichtete auf 5,7 Mrd. € jährlich bzw. 5,6% seines Bruttoinlandsprodukts [2]. Das Geld flösse stattdessen in die Flüchtlingspolitik aufnahmebereiter EU-Länder. Dieses naheliegende Druckpotenzial wird bereits umfassend diskutiert[3].

Im nächsten Schritt könnten kooperationswillige Mitgliedsstaaten drohen, die Personenfreizügigkeit innerhalb der EU auszusetzen bzw. zurückzuschrauben. Die rechtspopulistischen Regierungen Mittel- und Osteuropas müssten zahlreiche Heimkehrer im eigenen Arbeitsmarkt integrieren. Zwar wäre der Schritt für alle Beteiligten wirtschaftlich schädlich und vermutlich sogar illegal. Aber schon das drohende Szenario würde die Menschen und Regierungen egoistischer EU-Länder aufrütteln. Rechtlich höchst umstrittene Politikmaßnahmen gehören im Übrigen seit 2010 zur EU-Krisenpolitik – man denke an das umgangene Beistandsverbot der EU-Verträge in der Eurokrise oder an das ausgesetzte Dubliner Übereinkommen im Umgang mit Asylbewerbern.

Als ultima ratio stünden die anderen drei Freiheiten innerhalb der EU zur Disposition, also Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalmobilität. Die erstarkenden rechtspopulistischen Parteien auch in den großen EU-Staaten Frankreich, Großbritannien und Deutschland müssten ihren Sympathisanten erklären, dass sie weniger Wohlstand für alle durch autarke Volkswirtschaften anstreben. Das könnte Wählerstimmen kosten.

Fazit: Krise für Reformen nutzen

Die EU sollte nationale Egoismen überwinden, wenn sie nicht bald Geschichte sein will. Die Folge muss keineswegs in noch mehr Zentralbürokratie liegen. Vielmehr könnte die Krise für eine komplette Neuausrichtung genutzt werden, aus der die wesentlichen Gründungsziele der Gemeinschaft, nämlich Frieden und Wohlstand, gestärkt hervorgingen.


Quellen:

[1] Vgl. z.B. N. Gregory Mankiw und Mark P. Taylor, „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“, Stuttgart 2012, Kapitel 17. Ausführlich und ohne mathematischen Formelapparat: Avinash K. Dixit und Barry J. Nalebuff, „Spieltheorie für Einsteiger: Strategisches Know-How für Gewinner“, Stuttgart 1997.

[2] Statista, „Europäische Union: Operative Haushaltssalden der Mitgliedsstaaten im EU-Haushalt im Jahr 2014 (in Milliarden Euro)“, 2016, http://de.statista.com/statistik/daten/studie/38139/umfrage/nettozahler-und-nettoempfaengerlaender-in-der-eu/ (Abruf 23.1.2016).

[3] Z.B. Hendrik Kafsack, „Europas Zerreißprobe“, faznet 16.1.2016, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/nie-war-das-ende-der-eu-so-realistisch-wie-heute-14016293.html (Abruf 23.1.2016).

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