Britta Kuhn
Die Entwicklungsökonomen Lin und Monga plädieren in Beating the Odds[1] für eine Industriepolitik, die vorhandene Stärken ausbaut. Nur ein Ansatz unter vielen?
Lin und Monga: Komparative Vorteile nutzen
Der Chinese Justin Yifu Lin war von 2008 bis 2012 Chefökonom der Weltbank. Der Kameruner Célestin Monga bekleidet dieses Amt bei der Afrikanischen Entwicklungsbank. Ihr Entwicklungsansatz besteht aus sechs Schritten: 1. Sektoren mit latentem komparativen Vorteil identifizieren, 2. darin Beschränkungen für existierende Firmen abbauen, 3. ausländische Direktinvestitionen anziehen oder Firmengründungen erleichtern, 4. den Entdeckergeist privater Firmen stärken, 5. Sonderwirtschafts- und Exportverarbeitungszonen in Industriecluster überführen, 6. Externalitäten durch Subventionen ausgleichen.[2] Diese Politik sei pragmatisch, weil sie ausgewählten Branchen hinreichend gute Entwicklungsmöglichkeiten biete. Als Erfolgsbeispiele nennen die Autoren Brasilien, China, Indien, Indonesien, Vietnam und Äthiopien.[3]
Kritik am Mainstream, v.a. am „Washington Consensus“
Lin und Monga möchten auf dem aufbauen, was ein Land schon hat. Die konventionelle, westlich geprägte Entwicklungsökonomie wolle dagegen stärken, was armen Ländern fehle – z.B. gutes Regierungsverhalten, Humankapital oder Infrastruktur. Das sei nachweisbar unrealistisch, wie die Autoren mit interessanten Daten untermauern. So habe selbst der schnellste Reform-Staat der internationalen Entwicklungsgeschichte 18 Jahre gebraucht, um in puncto Rechtstaatlichkeit von einem „fragilen“ zu einem „low-income“-Status aufzusteigen. Normalerweise dauere dieser Prozess sogar viele Jahrzehnte. Und trotz dauerhafter Unterstützung durch den Internationalen Währungsfonds litten die meisten Programmstaaten in Afrika südlich der Sahara immer noch unter extrem niedrigen oder negativen Wachstumsraten. Dabei sei Wachstum auch in einem schwierigen Geschäftsumfeld möglich: Äquatorialguineas Realwachstum erreichte z.B. zwischen 1992 und 2012 jährlich stolze 19,2 Prozent, obwohl das Land 2012 beim „Ease of Doing Business“ nur Platz 164 belegte.[4] Weitere Erfolgsbeispiele wie Mauritius, Costa Rica oder die Vereinigten Arabischen Emirate zeigten daneben, dass industrielle Cluster sich nicht zufällig bilden müssten, sondern strategisch begünstigt werden könnten.[5] Entwicklungsländer sollten sich deshalb von den traditionellen Politikvorschlägen der meisten Mainstream-Ökonomen und Entwicklungsinstitutionen verabschieden, die wie der „Washington Consensus“ für minimale Regierungseingriffe plädierten.
Nur ein Entwicklungsansatz unter vielen?
Lin und Monga halten viele historische Wege für verfehlt[6]: Den frühen Fokus auf moderne, aber kapitalintensive Industriezweige zwecks Importsubstitution; die anschließenden makroökonomischen Stabilisierungs- und Liberalisierungsprogramme des „Washington Consensus“ und seiner sozialen bzw. institutionellen Erweiterungen; aber auch die modernen mikroökonomischen Versuche, Entwicklungspolitik evidenzbasiert zu bewerten. Dieser jüngste Weg hatte in den letzten Jahren zu viel Kritik an traditioneller Entwicklungshilfe großer Geberorganisationen an die Regierungen armer Staaten geführt.
Lins und Mongas Vorschlag ist insofern eine Bereicherung, als er an den tatsächlichen Gegebenheiten vieler Entwicklungsländer ansetzt, die sich auch kulturell deutlich von reichen OECD-Ländern unterscheiden. Sie dürften eher dem Entwicklungspfad Chinas oder Indien nacheifern. Dennoch wird Industriepolitik nicht alle Probleme lösen. Die Autoren hätten z.B. ebenso gut ein ganzes Buch über Bildungspolitik schreiben können. Denn weibliche Bildung senkt die Geburtenraten wirksamer als jede Aufklärungskampagne und begünstigt dadurch das Wachstum armer Länder.[7] Insofern handelt es sich nur um einen Entwicklungsansatz unter vielen.
Quellen:
[1] Lin, Justin Yifu; Monga, Célestin (2017): Beating the Odds. Jump-Starting Developing Countries. Princeton: Princeton University Press. Online verfügbar unter https://ebookcentral.proquest.com/lib/gbv/detail.action?docID=4862164.
[2] Ibid, S. 215 ff.
[3] Ibid, S. 319.
[4] Details: ibid, S. 132, Table 4.2. (Rechtstaatlichkeit); S. 103 i.V.m. S. 105, Table 3.6. (IWF-Programme); S. 27, Table 1.1. (Zusammenhang reales Wirtschaftswachstum und Geschäftsumfeld).
[5] Ibid, S. 286.
[6] Vgl. Zusammenfassung auf S. 85-87, Table 3.1.
[7] Vgl. z.B. The Economist, Gender Budgeting: The fiscal mystique. 25.2.2017, S. 64.