TARGET STREIT

Britta Kuhn

Deutsche Volkswirte sind uneins, ob die TARGET-Forderungen der Bundesbank ausfallgefährdete Milliarden-Kredite oder belanglose Bilanzposten darstellen.

Was sind TARGET-2-Salden?

TARGET bedeutet „Trans-European Automated Real-time Gross settlement Express Transfer system“. Es regelt den elektronischen Zahlungsverkehr zwischen Zentralbanken im Eurosystem.[1] Der erste Streitpunkt resultiert meines Erachtens daraus, dass TARGET neues Buch- bzw. Giralgeld schafft, das Geschäftsbanken in unserem Geldsystem weitgehend aus dem Nichts schöpfen können.[2] Dies führt unter Umständen zu neuem Zentralbankgeld im Eurosystem, dem keine marktüblichen Sicherheiten und Zinsen gegenüber stehen. Kauft z.B. ein Italiener ein deutsches Auto und überweist 50.000 € von seinem italienischen auf ein deutsches Konto, könnte der betreffende Betrag aus seiner Ersparnis oder einem Bankkredit stammen. In beiden Fällen hätte er eine Giraleinlage bei seiner Bank I. Aber im ersten Fall hätte der Italiener das Auto bereits erwirtschaftet, im zweiten würde er es auf Kredit kaufen.
Die TARGET-„Befürworter“ unterscheiden diese Fälle nicht, sondern konzentrieren sich auf den technischen Ablauf der Überweisung: Geschäftsbank I belastet in Schritt 1 das italienische Kundenkonto mit 50.000 €, zieht ihm also diesen Betrag ab. Das Gleiche macht in Schritt 2 die Banca d’Italia gegenüber Bank I und in Schritt 3 die EZB gegenüber der Banca d’Italia. In Schritt 4 erhält die Bundesbank eine Gutschrift der EZB, also zusätzliche 50.000 € Giralgeld. Sie transferiert diese Gutschrift in Schritt 5 an die deutsche Geschäftsbank D, die das Guthaben ihres deutschen Kunden in Schritt 6 entsprechend erhöht.[3]
Die TARGET-Kritiker konzentrieren sich dagegen auf den Kreditfall: Gemäß ursprünglichem EZB-Regelwerk konnten EZB und Banca d’Italia in Schritt 2-3 nur einen verzinsten Kredit gegen notenbankfähige Sicherheiten vergeben. Die unkonventionelle Geldpolitik des Eurosystems ermöglicht aber längst auch nationale „Notfallkredite“ (Emergency Liquidity Assistance ELA) ohne nennenswerte Verzinsung und Sicherheiten. Diese nationale Geldschöpfung ist zwar nicht grenzenlos möglich. Sie sei aber für Schuldner wie Bank I viel erschwinglicher als die traditionellen Interbankkredite.[4] Die Bundesbank müsste in diesem Szenario letztlich neues Zentralbankgeld schaffen.

Wofür stehen die TARGET-Forderungen der Bundesbank?

Die TARGET-Forderungen der Bundesbank gegenüber der EZB, also obiger Schritt 4, beliefen sich Ende August 2018 auf 912 Mrd. €.[1] Hier liegt meines Erachtens der zweite Streitpunkt: TARGET-Kritiker sprechen eher von Überweisungen zwischen europäischen Nationalstaaten, sehen also in der Bundesbank-Forderung letztlich eine Forderung deutscher gegenüber z.B. italienischen Steuerzahlern. Überspitzt formuliert: Der Italiener kaufe das deutsche Auto mit einem Kredit, dessen Verzinsung und Sicherheiten aus deutscher Sicht miserabel seien. Die Verdrängung marktgängiger Kredite durch nationale Geldschöpfung praktisch zum Nulltarif habe sich im Eurosystem durch die „mengenmäßige Lockerung“ (QE) seit 2015 beschleunigt.[4] Bei QE versorgen nationale Zentralbanken die Finanzmärkte mit zusätzlichem Geld, indem sie Schulden aufkaufen, die vornehmlich ihre eigene Regierung machte.
Die TARGET-„Befürworter“ sprechen von Überweisungen zwischen Personen und Firmen, nicht zwischen Staaten. Sie sehen also keine nationale Dimension im Zahlungsverkehr der Eurozone.[5] Zum Beispiel würde auch deshalb viel mehr an die Bundesbank überwiesen als umgekehrt, weil viele internationale Banken in Frankfurt Konten besäßen und von dort aus Anleihen an die nationalen Notenbanken verkaufen würden.[3] An die Stelle des deutschen Autoexporteurs tritt hier beispielsweise ein Franzose, der seine Italien-Anleihe über die Frankfurter Filiale seiner Bank F an die Banca d‘Italia verkauft. Die zugrunde liegende, ultralockere EZB-Geldpolitik kritisieren diese Ökonomen im Zusammenhang mit der TARGET-Kontroverse nicht. So kommen sie zu dem Ergebnis, dass die TARGET-Forderungen keineswegs miserable Kredite darstellen, sondern reine Bilanzpositionen.[5]

Sind die TARGET-Forderungen der Bundesbank eine tickende Zeitbombe?

Den dritten Streitpunkt sehe ich darin, dass die Kontrahenten Europas politische Zukunft unterschiedlich einschätzen. TARGET-Kritiker halten ein völliges Auseinanderbrechen der Eurozone nicht für ausgeschlossen. In diesem Extremfall gäbe es keine EZB mehr, so dass die Bundesbank ihre Forderungen gegenüber dieser Institution wohl abschreiben müsste. In der Folge litten entweder Deutschlands Steuerzahler unter ausbleibenden Bundesbank-Gewinnen, oder die Bundesbank müsste ihr negatives Eigenkapital durch Geldschöpfung ausgleichen.[3,4,6] Politisch lehnen diese Ökonomen eine zunehmend gemeinschaftlich-europäische Haftung eher ab.
Die TARGET-„Befürworter“ halten einen Untergang der EZB für ausgeschlossen. Sie beschäftigen sich deshalb höchstens mit dem Austritt einzelner Länder aus der Währungsunion. In diesem Fall bestünden die Bundesbank-Forderungen gegenüber der EZB weiter. Bestenfalls würden auch ausgetretene Notenbanken ihre EZB-Verbindlichkeiten noch begleichen. Andernfalls könne die EZB Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten kostenlos durch neues Geld begleichen. Schlimmstenfalls wäre die Bundesbank nur anteilig von Ausfällen betroffen, weil sie ja nur einen Teil des EZB-Kapitals hielte.[3,5,6] Politisch sind diese Ökonomen aufgeschlossen für eine zunehmend gemeinschaftlich-europäische Haftung. Zum Beispiel diskutieren sie niemals ein Ausgleichssystem für die Eurozone, wie es in den zwölf Notenbank-Distrikten der USA existiert. Dort übertragen Distrikte mit Zahlungsverkehr-Verbindlichkeiten zinstragende Wertpapiere and Distrikte mit Forderungen.[4,7]

Fazit

Der TARGET-Streit ist selbst für gelernte Volkswirte nicht leicht zu durchschauen. Denn die Kontrahenten verwässern ihre Argumentation durch viel Polemik und kaum offengelegte Werturteile. Ob die TARGET-Forderungen der Bundesbank problematisch sind, hängt meines Erachtens vor allem von der individuellen politischen Einstellung ab: Wer Mario Draghis Ewigkeitsgarantie für den Euro vertraut, die europäische Vergemeinschaftung von Schulden nicht scheut und Inflationsraten oberhalb 2 Prozent gelassen sieht, kann sich beruhigt anderen Themen zuwenden. Alle anderen machen sich berechtigterweise Sorgen.

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Quellen:
[1] Deutsche Bundesbank, TARGET2, ohne Datum, https://www.bundesbank.de/Navigation/DE/Aufgaben/Unbarer_Zahlungsverkehr/TARGET2/target2.html (Zugriff 23.9.2018).
[2] Vgl. drei Erklär-Videos der Deutschen Bundesbank, „Wie entsteht Geld?“ (1. Bargeld, 2. Buchgeld, 3. Zentralbankgeld) vom 19.5.2017, https://www.bundesbank.de/SiteGlobals/Forms/Archiv/DE/Videos/Videos_Formular.html?resourceId=174042&input_=173340&pageLocale=de&suchfeld=geld&submit=Search&cl2Categories_Themen=&cl2Categories_Themen.GROUP=1&dateOfIssueAfter=&dateOfIssueBefore=&searchIssued=0&searchIssued.HASH=cce9787cf326145099d6#medienModul (Zugriff 23.9.2018).
[3] Ähnlich: Jan Mallien und Frank Wiebe, Die Billionen-Forderung der Bundesbank – und was sie bedeutet. Handelsblatt Research Institute vom 13.7.2018.
[4] Ein wichtiger Protagonist dieser Auffassung ist Hans-Werner Sinn, siehe z.B.: „Target-Salden: Irreführende Verharmlosung“, Frankfurter Allgemeine vom 5.8.2018, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/bringen-die-target-salden-deutschland-in-gefahr-15723567.html?xtor=EREC-7-%5BWirtschaft%5D-20180806&utm_source=FAZnewsletter&utm_medium=email&utm_campaign=Newsletter_FAZ_Wirtschaft (Zugriff 23.9.2018).
[5] Ein wichtiger Protagonist dieser Auffassung ist Martin Hellwig, siehe z.B.: „Unberechtigte Panik: Wider die deutsche Target-Hysterie“, Frankfurter Allgemeine vom 29.7.2018, http://www.faz.net/aktuell/finanzen/finanzmarkt/unberechtigte-panik-vor-italien-austritt-fuer-eurowaehrung-15712671.html?xtor=EREC-7-%5BWirtschaft%5D-20180730&utm_source=FAZnewsletter&utm_medium=email&utm_campaign=Newsletter_FAZ_Wirtschaft (Zugriff 23.9.2018).
[6] Norbert Häring, Target-Saldo auf neuem Rekordstand. Handelsblatt Research Institute vom 20.4.2018.
[7] Vgl. auch Gerald Braunberger, „Das Anleihekaufprogramm der EZB treibt den Target-2-Saldo“, Fazit – das Wirtschaftsblog vom 3.7.2018, http://blogs.faz.net/fazit/2018/07/03/das-anleihekaufprogramm-der-ezb-treibt-den-target-2-saldo-10130/?xtor=EREC-7-%5bWirtschaft%5d-20180703&utm_source=FAZnewsletter&utm_medium=email&utm_campaign=Newsletter_FAZ_Wirtschaft (Zugriff 23.9.2018).

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Ein Gedanke zu „TARGET STREIT

  1. MK sagt:

    Sehr spannend, vielen Dank für den Einblick.

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