Britta Kuhn
Singapur ist wirtschaftlich sehr erfolgreich – jüngst auch im Vergleich zu Hongkong. Können westliche Demokratien von der „Löwenstadt“ lernen? Oder ist das System eher gruselig?
Lee Kuan Yew, die graue Eminenz
„LKY“ regierte Singapur von 1959 bis 1990. Bis 2004 war er Minister unter seinem Nachfolger Goh Chok Tong. Seither führt Lees Sohn Lee Hsien Loong die Regierungsgeschäfte. Sein Vater wirkte bis zu seinem Tod im Hintergrund. Singapurs beindruckender wirtschaftlicher Aufstieg ist zuvorderst Lee Kuan Yews Verdienst. Auch Bernhard Seitz und Frank Fabian (Pseudonym) preisen ihn in „Die Erfolgsgeheimnisse Singapurs[1] als hochbegabten und in jeder Hinsicht vorbildlichen Politiker. Aber was genau hat er gemacht? Und ist sein Wirken tatsächlich auf pluralistische westliche Demokratien übertragbar, wie die inzwischen 89- bzw. 69-jährigen Autoren vorschlagen?
Wirtschaftsliberal und autoritär
In ihrem weitschweifigen Buch führen Seitz und Fabian Singapurs ökonomischen Erfolg letztlich auf zwei Faktoren zurück: Eine ziemlich liberale Wirtschaftspolitik und einen ziemlich illiberalen Rest. Die Autoren preisen die wirtschaftlichen Freiheiten und Deregulierungsmaßnahmen der ehemaligen britischen Kolonie, insbesondere niedrige Steuern. Erstaunlicherweise gehören aber auch staatliche Infrastrukturmaßnahmen und Singapurs aktivistische Industriepolitik zu ihrer „Goldformel“ (S. 41). Denn so richtig trauen die beiden Senioren dem Liberalismus dann doch nicht: Lee Kuan Yew kommt eher als paternalistischer Diktator denn als gewählter Demokrat herüber. Seine als vorbildlich transportierte Ethik umfasst neben dem Anti-Korruptionskampf auch das Verbot unkonventioneller Sexualpraktiken unter Erwachsenen (Kap. 13), die Todesstrafe und eine strikte Anti-Drogenpolitik (Kap. 11).[2] Sein sauberes und grünes Singapur ist nicht nur ein Touristenmagnet – vermutlich für Menschen, die auch Gated Communities, Charter Cities und Disney Parks lieben. Singapurs qualitätsorientiertes Bildungssystem zieht auch zahllose ausländische Talente an, sein Reichtum daneben Hilfskräfte aus den umliegenden, viel ärmeren Ländern. Die Regierung fördert aktiv und finanziell private Beziehungen zwischen Studierenden bzw. Akademikern, um mehr Akademiker-Kinder hervorzubringen (S. 101). Sie verordnet kulturelle Toleranz, etwa durch einen vorgeschriebenen Bevölkerungsmix in Wohnblöcken (S. 110 f.). Und sie begrenzt die Militärausgaben, indem sie sich strikt auf den Verteidigungsfall konzentriert.
Fazit
Seitz und Fabian stellen Singapur auf eine Stufe mit der Schweiz, was intelligentes Regieren betrifft. Allerdings erzielte die Alpenrepublik ihren großen Wohlstand, ohne auf eine pluralistische Volksherrschaft zu verzichten. Insofern mag der demokratische Westen viel von Singapurs Primat wirtschaftlicher Liberalisierung lernen. Vom paternalistischen Rest eher wenig bis nichts.
Quellen:
[1] Bernhard Seitz, Frank Fabian, „Die Erfolgsgeheimnisse Singapurs. Politik und Philosophie einer der erfolgreichsten Staaten der Welt“, Suhl 2019. Die Autoren zitieren, soweit ihr Werk nicht thematisch abschweift, überwiegend Singapurs langjährigen Premier Lee Kuan Yew. Der veröffentlichte im Jahr 2000 das Buch „From Third World to First: The Singapore Story: 1965-2000“. Insofern erstaunt auch nicht, dass sie Singapurs Regierungssystem als „Meritokratie“ (S. 22 i.V.m. S. 163) interpretieren, obwohl LKY sogar noch unter der Regierung seines Sohns eine große politische Rolle spielte. Oder dass sie es lobenswert finden, die Pressefreiheit zugunsten einer obligatorischen Regierungs-Gegendarstellung einzuschränken und „die Hintermänner einer bösartigen Nachricht in Erfahrung“ zu bringen (S. 119). Im Übrigen haben Seitz und Fabian leider auf ein Lektorat verzichtet (siehe z.B. die Lücke auf S. 17 unten oder komma- und inhaltsfreie Textpassagen wie auf S. 5: „Steigen wir ohne umständliche Kapriolen zu schlagen sofort ein und stürzen wir uns mitten ins Gefecht.“ Es folgen umständliche Kapriolen.)
[2] Seitz und Fabian machen wenig Hehl aus ihrer Abscheu gegenüber Homosexualität und anderen „Perversionen“ (S. 141). Unklar bleibt dagegen, ob sie auch den in Deutschland und England verbreiteten Alkoholkonsum drakonisch bestrafen wollen, oder sich ihre Abscheu nur auf illegale Rauschmittel bezieht.