Britta Kuhn
Wie sähe eine marktliberale Impfpolitik aus? Einige Stichworte sind hier „Externalitätentheorie“, „Verursacherprinzip“, „individuelle Zahlungsbereitschaft“ und „öffentliche Güter“.
Impfpflicht gemäß Externalitätentheorie?
Die neoklassische Wirtschaftstheorie erlaubt Eingriffe in den Markt, sobald dieser zu viel oder zu wenig eines Guts gegenüber dem „gesamtgesellschaftlichen Optimum“ hervorbringt. Die Rede ist von Marktversagen. Im ersten Fall überversorgt der Markt mit einem „Ungut“, erzeugt also eine negative Externalität. Sie würde im Idealfall durch eine private Verhandlung internalisiert. Versagt dieses „Coase-Theorem“ aufgrund zu hoher Umtriebe – in der Fachsprache „Transaktionskosten“ – muss der Staat einspringen. Er sollte das Ungut entweder durch eine Pigou-Steuer verteuern und so die negative Aktivität zurückdrängen. Oder er darf die Aktivität direkt über (ganz oder teilweise) Ge- und Verbote regulieren. Ein Beispiel sei die Schutzmaskenpflicht, solange nicht genügend Impfstoff zur Verfügung steht: Ohne Schutzmaske überträgt sich das Virus unter sonst gleichen Umständen schneller, so dass auch die Krankenhäuser früher mit Corona-Patienten „überversorgt“ sind.
Im zweiten Fall unterversorgt der Markt, erzeugt also eine positive Externalität. Das klingt besser als es ist. Tatsächlich nämlich bringen auch hier die individuellen Handlungen nicht genug Anreize hervor, um die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt zu maximieren. Versagt das privatwirtschaftliche Coase-Theorem auch hier, sollte der Staat das gewünschte Gut durch eine Pigou-Subvention verbilligen oder wie im ersten Fall regulieren. Ein Beispiel sei das Impfen: Jede Impfung erzeugt einen gesellschaftlichen Nutzen, den nicht jedes Individuum in seine Impfentscheidung „einpreist“. Die Impfquote steigt daher, wenn der Staat diese persönliche Präventionsmaßnahme bezuschusst oder wie in Deutschland sogar kostenlos anbietet. (Serbien ging sogar so weit, die Impfung finanziell zu belohnen. Aus verhaltensökonomischer Sicht ist allerdings umstritten, ob diese Monetarisierung zielführend wirkt.) Reichen diese Maßnahmen nicht aus, korrigiert eine Impfpflicht das Marktversagen. Liberale Demokratien wie die USA gehen in diese Richtung. Deutschland bevorzugte bisher „nudges“, zu deutsch eine „Anstupspolitik“. Dabei handelt es sich um indirekte Impfanreize wie die „2-G-Regel“, die Ungeimpfte „freiwillig“ dazu bringen soll, die Unterversorgung zu beenden.
Oder strikte Anwendung des Verursacherprinzips?
Eine liberalere Lösung läge darin, für Ungeimpfte das Verursacherprinzip anzuwenden: Die Kosten einer Corona-Behandlung wären privat zu bezahlen, soweit nicht nachgewiesen würde, dass eine Impfung medizinisch unvertretbar gewesen wäre. Allerdings träten hierbei zwei praktische Probleme auf: Erstens müssten die Ungeimpfte ebenfalls die Kosten für „Impfdurchbrüche“ übernehmen – also die Behandlungskosten für Geimpfte, die von ihnen angesteckt wurden. Wäre dies nicht nachverfolgbar, müssten die Ungeimpften streng genommen in Dauer-Quarantäne gehen – selbstverständlich auf eigene Kosten und unter Einbeziehen der Überwachungskosten. Zweitens müsste die Regierung gewährleisten, dass einkommensschwache Ungeimpfte auch ohne entsprechende Bonität einen Kredit erhielten, um ihre Behandlungskosten bezahlen zu können. Ihre Überschuldung würde dadurch zunehmen.
Also alles unrealistisch? Nein. Allein die Veröffentlichung der Neuerung würde das moral-hazard-Verhalten Ungeimpfter reduzieren. Denn die „moralische Versuchung“, einen gesellschaftlichen Schaden wissentlich in Kauf zu nehmen, da die Kosten dieses Schadens kollektiviert würden, sänke deutlich.
Ist Impfstoff ein weltweites öffentliches Gut?
Die globale Betrachtung gestaltet sich schwieriger. Laut UN-Generalsekretär Guterres ist Impfstoff ein weltweites öffentliches Gut. Genau genommen hieße das: Die positive Externalität des Impfens liegt bei 100%, so dass kein privater Markt zustande kommt. Das ist zumindest übertrieben. Allein der internationale „Impftourismus“ im Frühjahr 2021 zeigte, dass viele Menschen eine hohe Zahlungsbereitschaft für eine frühe COVID-Impfung aufwiesen. Aber was wäre, wenn Guterres Recht hätte? In diesem Fall müsste der Staat, hier also die Weltgemeinschaft, das Gut vollständig bereitstellen oder zumindest finanzieren. In diesem Zusammenhang wird auch oft gefordert, dass die privaten Impfstoff-Entwickler ihr Wissen kostenlos zur Verfügung stellen.
Tatsächlich war bisher die Impfstoff-Zahlungsbereitschaft der reichen Länder wesentlich höher als die der armen Länder. Das hängt mit einer höheren Zahlungsfähigkeit und anderen Konsumpräferenzen zusammen: Eine COVID-Impfung stellt vor allem für junge und gesunde Menschen ein einkommenssuperiores Gut dar: Wer z.B. um die tägliche Grundernährung der Kinder kämpft, denkt weniger intensiv an die Langzeitfolgen einer Corona-Infektion als die reiche, alte Mittelschicht der OECD-Länder. Verzichtet die Weltgemeinschaft also realistischer Weise darauf, die Grenzen jahrelang hermetisch abzuriegeln, sollte Impfstoff von reichen in arme Länder umverteilt werden. Genau dies versucht COVAX, allerdings mit bisher mäßigem Erfolg. Keinesfalls wünschenswert ist aus marktliberaler Sicht dagegen, das private Impfstoff-Wissen zu „enteignen“. Als Folge fände nämlich weniger private Forschung statt, dadurch würden weniger Impfstoffe entwickelt und diese folglich teurer. Der geringere Eingriff liegt darin, dass Regierungen mit Steuergeldern die privat erforschten und produzierten Impfstoffe kaufen und so verteilen, dass eine weltweit – statt wie bisher national – optimierte Allokation erreicht würde.
Weiterlesen:
N. Gregory Mankiw und Mark P. Taylor, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 8. Auflage 2021 oder 7. Auflage 2018. Der Externalitätentheorie und den Öffentlichen Gütern ist jeweils ein ganzes Kapitel gewidmet. Alle anderen Fachbegriffe finden sich am einfachsten im E-Book über die Suchfunktion. Die Anwendung auf die Corona-Pandemie fehlt naturgemäß in der Lehrbuch-Auflage von 2018.