Britta Kuhn
Marianna Roschnows Bachelor-Thesis analysiert die aktuellen geldpolitischen Zielkonflikte im Euroraum[1]
Die EZB befindet sich in einem Dilemma: Desinflationspolitik befeuert Rezessionsgefahren, alles andere Inflationserwartungen, Staatspleiten und eine Weichwährung im Euroraum.
Geldpolitik der EZB und der US-Notenbank im Vergleich[2]
An der hohen Inflation seit Frühjahr 2022 ist vor allem die Angebotsseite schuld: Energie- und Lebensmittelpreise sind weltweit stark gestiegen, die Lieferketten gestört. Nur geringe Effekte kommen von der Nachfrageseite – etwa gestiegene Tourismus-Ausgaben. Die US-Notenbank reagierte ab März mit drastisch höheren Leitzinsen auf die Preissteigerungen. Die Europäische Zentralbank wartete bis Ende Juli und handelte zögerlich: Im Vergleich zu den USA erhöhte sie erstens die Leitzinsen nur moderat. Zweitens stellte die EZB keineswegs in Aussicht, ihre expansiven Anleihekaufprogramme APP und PEPP (Asset- bzw. Pandemic Emergency Purchase Programme) kurzfristig zu drosseln. Lediglich auf eine Nettoerhöhung der Staatsschuldenkäufe wollte sie künftig verzichten. Drittens führte die europäische Notenbank ein weiteres Kriseninstrument ein. Das neue Transmission Protection Instrument TPI erlaubt der EZB, zum Beispiel auslaufende deutsche ganz flexibel durch den Ankauf italienischer Staatsschulden zu ersetzen. Dadurch sinkt die Marktnachfrage nach deutschen Schuldscheinen und damit deren Kurs. Folglich steigt die Rendite deutscher Schulden. Die Bundesregierung müsste also mehr dafür bezahlen, „auf Pump“ zu wirtschaften. Umgekehrt wäre es in Italien. Die EZB will mit TPI gezielt dazu beitragen, dass sich die Renditen im Euroraum angleichen.
Opferquotient, Inflationserwartungen, …[3]
Der Kampf gegen die Inflation, auch als Desinflationspolitik bezeichnet, hat unerwünschte Nebenwirkungen. Sie liegen in einer höheren Arbeitslosigkeit und einem niedrigeren Produktionsniveau, kurz: in einer Rezession. Der Opferquotient, nämlich der prozentuale BIP-Rückgang je Prozentpunkt weniger Inflation, sollte dabei so niedrig wie möglich ausfallen. Damit dies gelingt, müssen die Inflationserwartungen sinken bzw. dürfen keinesfalls steigen. Will sagen: Die Notenbank muss derart glaubwürdig gegen die Preissteigerungen vorgehen, dass die Wirtschaftsakteure die Inflation nur für vorübergehend halten. Ansonsten verlangen sie nämlich höhere Preise für ihre Arbeitskraft und Produkte, was die Inflation weiter anheizt.
…staatliche Insolvenzgefahr und Euro-Abwertung[4]
Hinzu kommt, dass die EZB in den letzten rund zehn Jahren große Teile der Staatsschulden im Euroraum gekauft hat. Dadurch sanken die Verschuldungskosten der beteiligten Regierungen, was wiederum die öffentlichen Schuldenstände erhöhte. Steigen nun die Leitzinsen, verteuert sich auch die Staatsverschuldung. Die deutsche Bundesregierung muss zum Beispiel für die Refinanzierung auslaufender Schulden wieder bezahlen, während sie während der Negativzins-Zeit von den Sparern eine Prämie erhielt. Das erhöht die Gefahr von Staatspleiten. Schließlich kämpft die EZB damit, dass der Euro gegenüber dem US-Dollar abwertet. Das liegt nicht nur an der restriktiveren US-Geldpolitik, sondern auch am Ukraine-Krieg, der die USA zu einem sicheren Hafen macht. Da aber Energie und (weitere) Rohstoffe in aller Regel in US-Dollar bezahlt werden, treibt die Euro-Abwertung die Inflation zusätzlich an.
Kontroverse um Renditeunterschiede im Euroraum[5]
Die EZB sieht in unterschiedlichen Zinsen für Staatsschulden eine unerwünschte Entwicklung. Auch die Verfasserin der Thesis argumentiert, dass die Zahlungsunfähigkeit eines Mitgliedslandes wie Italien die Währungsunion insgesamt gefährde und die europäische Geldpolitik flexibel bleiben müsse – also gegebenenfalls von einer restriktiven Geldpolitik absehen solle. Sie erläutert aber auch, dass Kritiker der EZB-Politik Renditeunterschiede für eine natürliche Kapitalmarktreaktion auf unterschiedliche volkswirtschaftliche Stärken halten und das neue TPI für einen weiteren Schritt zur monetären Staatsfinanzierung. Eher solle die Finanzpolitik im Euroraum nachhaltiger werden. Dies würde die Glaubwürdigkeit der nationalen Regierungen und der EZB erhöhen.
Fazit Kuhn
Die Europäische Währungsunion folgte von Anfang an der „Grundstein-Theorie“: Eine gemeinsame Währung sollte die Mitgliedsländer zu einer realwirtschaftlichen Angleichung zwingen, nicht umgekehrt eine gemeinsame Währung einen homogenisierten Wirtschaftsraum „krönen“. Leider hat die realwirtschaftliche Angleichung nur teilweise funktioniert und war mit hohen politischen Kosten verbunden. Auch die Glaubwürdigkeit der EZB als unabhängige Währungshüterin hat stark gelitten. Empirisch zeigte die Vergangenheit: Notenbanken, die tatsächlich – nicht notwendigerweise rein rechtlich – politisch unabhängig agierten, waren im Anti-Inflationskampf am erfolgreichsten. EZB-Chefin Lagarde scheint dagegen auf vieles Rücksicht zu nehmen – freiwillig oder erzwungenermaßen.
Quellen:
[1] Marianna Roschnow, „Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion: Gelingt die Inflationsbekämpfung ohne Rezession, staatliche Insolvenz und weitere Nebenwirkung?“, Bachelor Thesis, Wiesbaden Business School der Hochschule RheinMain, 12.9.2022.
[2] Im Detail: Marianna Roschnow, a.a.O., Kapitel 2, S. 2 ff. und Abschnitt 4.4, S. 15 f.
[3] Im Detail: Marianna Roschnow, a.a.O., Kapitel 3, S. 6 ff.
[4] Im Detail: Marianna Roschnow, a.a.O., Abschnitte 4.1, S. 11 f. und 2.3, S. 6
[5] Im Detail: Marianna Roschnow, a.a.O., Abschnitt 4.2, S. 13 f., 4.5, S. 16 ff. und Kapitel 5, S. 18 f.