Jens Siegert, Im Prinzip Russland

Britta Kuhn

Warum überfiel Putin die Ukraine? Wie hält er sich an der Macht? Im Fachbuchjournal stelle ich ausführlich Bücher vor, die Antworten bieten.[1] Hier Teil 1 der Ultra-Kurzfassung.[2]

Chaosjahre unter Jelzin

Der Journalist und Politikwissenschaftler Siegert lebt seit 1993 in Moskau. Er analysiert Politik, Geschichte, Wirtschaft, Alltagsleben, Kultur und Sozialpsychologie eines Volkes, das völlig andere Prägungen erfuhr als die Nachkriegsgenerationen Mittel- und Westeuropas. Beispiel Demokratie und Kapitalismus: Die große Bevölkerungsmehrheit verbinde damit Chaos und Niedergang der 1990er Jahre unter Boris Jelzin. Also eine Kombination aus Misswirtschaft, schwachem Staat, Korruption, Verarmung vieler zugunsten weniger Superreiche. Daneben den internationalen Ansehensverlust des einst stolzen Imperiums. Und der Westen habe Jelzin bis zuletzt gestützt.

Putin, der Retter?

1999 übernahm Wladimir Putin – in allem Jelzins Gegenteil: Jung, gesund, tatkräftig und Repräsentant eines starken Staates. Er hatte aber auch Glück, weil nach der Russland-Krise 1998 der Rubel massiv abgewertet hatte und die Öl- und Gaspreise kräftig stiegen. Putins politische Stabilisierung förderten aber auch ausländische Investitionen in Russland. Stabilität und Wirtschaftswachstum kehrten zurück. Dagegen verblassten die neuen Freiheitsrechte der 1990er Jahre. Siegert begründet diese Mehrheitswahrnehmung auch historisch: In Russland dürfe die Staatsmacht schon immer über die Menschen entscheiden, müsse aber daneben für sie sorgen. Auch Putins lange Herrschaft beruhe auf drei traditionellen Machtsäulen: Gewalt, materiellem Wohlstand und Legitimität. Seine Legitimität bröckelte zwar nach der Parlamentswahl 2011 – es fanden erste Massendemonstrationen gegen Wahlfälschungen statt. Mit der Krim-Annexion erhöhte der russische Präsident seine Zustimmungswerte aber wieder. Statt Wohlstand und Sicherheit strebt er laut Siegert seither die Wiederbelebung des russischen Großmacht-Anspruchs an. 2014 hatte US-Präsident Obama Russland als Regionalmacht bezeichnet. Dies sei landläufig als tiefe, narzisstische Kränkung wahrgenommen worden. Warum aber versteht sich Russland weiterhin als Weltmacht, obwohl es vor allem im Vergleich zu China wirtschaftlich massiv an Bedeutung verloren hat? Wegen Sibirien. Dessen Eroberung ab dem 16. Jahrhundert sei ein typisch europäischer Kolonialisierungsakt und für Russlands politischen und wirtschaftlichen Aufstieg maßgeblich gewesen. Bis heute lebe das Land einzig von sibirischen Rohstoffen.

Kompliziertes Verhältnis zu Europa

Nach Ansicht vieler Russen will der Westen ihr Land kleinhalten. Nur etwa jeder Sechste habe daneben im Jahr 2015 gefunden, dass Russland dem Westen gleichen solle. Man bewundere und verachte Europa gleichermaßen – Stichworte Euroqualität einerseits, angeblicher moralischer und materieller Verfall Europas andererseits. Und für demokratisch hielten die meisten Einwohner Russland sowieso. Dabei stellen laut Siegert staatliche Grausamkeit gegen das eigene Volk eine der großen Konstanten der letzten 400 Jahre russischer Geschichte dar. Eine Aufarbeitung staatlicher Verbrechen unterdrücke der russische Staat bis heute – durch seine Geheimdienste und kontrollierte Massenmedien. Zunächst habe Putin vor allem im reichweitenstarken Fernsehen eine positive Berichterstattung erzwungen und unabhängige Journalisten unter Druck gesetzt. Bis Ende 2020 habe der Präsident dann die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen, sein Land vom weltweiten Internet zu trennen.

Gopniki, …

„Im Prinzip Russland“ erklärt wichtige Begriffe, die Russland-Anfängern die Augen öffnen. „Gopniki“ seien zum Beispiel ursprünglich kriminelle Jugendliche aus schwachen sozialen Schichten. Getrieben von niederen Instinkten, wollten sie nicht nur Beute, sondern es den Angegriffenen so richtig zeigen. Putin stütze sich inzwischen stark auf entsprechende Ressentiments weiter Bevölkerungsteile. Diese beruhten vor allem auf Minderwertigkeitsgefühlen und setzten Aggressionen frei. Sein Appell an niedere Instinkte ließe sich am besten im Verhalten gegenüber der Ukraine verfolgen – wohlbemerkt: Siegert schloss sein Manuskript ein Jahr vor dem russischen Überfall ab. Am besten reagiert man seines Erachtens auf „Gopniki“ selbstbewusst, ohne sie weiter herauszufordern. Bliebe man standhaft, schalte der Angreifer einen Gang zurück. Wer sich dagegen einschüchtern lasse, mache alles noch schlimmer. Beruht also die gesamte russische Außenpolitik auf der „Gopnik“-Strategie? In diesem Fall sei ein klares „Halt, so nicht“ zielführender als die in Deutschland oft übliche Kompromiss-Suche ohne vorherigen Kampf. 

… Silowiki…

„Silowiki“ übersetzt Siegert mit Machtmenschen. Der Ex-Geheimdienstler Putin verkörpere diesen Typ aufs Beste. In seinen Anfangsjahren achtete er demnach noch auf ein Gleichgewicht zwischen Wirtschaftsfachleuten, die das Geld verdienten, und Politikern, die es zum Machterhalt ausgaben. Seit der Finanzkrise 2008/2009 und endgültig seit der Krim-Annexion 2014 hätten die Wirtschaftsexperten jedoch nichts mehr zu sagen. Putins „Krim-Konsens“ mit Zustimmungswerten über 80 Prozent trug gemäß Siegert allerdings nur bis 2018. Danach nahmen wirtschaftliche Not, Korruption, Defizite im Gesundheits- und Bildungssystem wieder Überhand. Den Rest besorgte die Corona-Pandemie. Wollte Putin also mit seinem Angriffskrieg die Stimmung verbessern? Und warum begehren Russlands Oligarchen nicht gegen ihn auf, obwohl sie unter westlichen Sanktionen leiden? Jenseits aktueller westlicher Medienberichte über deren gehäufte Unfälle und sonstige plötzliche Todesfälle erklärt Siegert: Privilegien band schon die Sowjetunion weniger an Eigentum und mehr an die Stellung im System, die man jederzeit verlieren konnte.

Fazit Kuhn

„Im Prinzip Russland“ schildert auch zahllose praktische Besonderheiten des Lebens in Russland, die meine Rezension im Fachbuchjournal ebenso wie geschichtliche Hintergründe vertieft. Klar wird zum Beispiel, warum viele Russen den hierzulande verehrten Gorbatschow verachtet haben. Oder welche Rolle die russisch-orthodoxe Kirche im Ukraine-Krieg spielt. Vor allem aber, warum Marktwirtschaft, Staatsmacht, Freiheitsrechte, Demokratie und Putin selbst anders wahrgenommen werden.


Quellen:

[1] Britta Kuhn, Russland: Putin, in: Fachbuchjournal 6/2022, S. 12-14 (Rezension Landeskunde).

[2] Jens Siegert, Im Prinzip Russland. Eine Begegnung in 22 Begriffen, Edition Körber, 2021.

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