Britta Kuhn
Interessiert an einem innovativen und kostenlosen Lehrbuch, das volkswirtschaftliche Zusammenhänge differenziert erklärt? www.core-econ.org macht’s möglich. Ob sich das Werk gegen Mankiw & Co. durchsetzen wird?
“The Economy”: Realistisch, interaktiv und aktuell
Mit dieser Veröffentlichung macht das “Institute for New Economic Thinking” seinem Namen alle Ehre. Denn “The Economy“ [1] unterscheidet sich deutlich von marktgängigen Einführungen in die VWL. Neben George Soros’ Denkfabrik beteiligten sich die indische Azim Premji University und die Pariser Sciences Po an den Kosten. Eine unvollständige erste Fassung lag im September 2014 vor, im Januar 2015 folgte eine erweiterte und aktualisierte Version.
Das Lehrbuch beschränkt sich nicht auf die gängige neoklassische Wirtschaftstheorie US-amerikanischer Prägung. Es berücksichtigt durchweg wirtschafts- und ideengeschichtliche, verhaltenspsychologische, institutionenbezogene und weltweite Phänomene. Auch aktuelle Praxisbeispiele erleichtern eine vielschichtige Annäherung an wirtschaftliche Zusammenhänge. Typische Fragen, die Weltmarktführer Mankiw[2] nicht beantwortet, lauten zum Beispiel: Wie entwickelte sich Ungleichheit in den letzten drei Jahrhunderten? Wie lässt sich ein Wirtschaftskreislauf modellieren, der auch die Umwelt berücksichtigt? Welchen intellektuellen Beitrag lieferte Karl Marx? Wie sieht eine vereinfachte Bankbilanz aus und was lernen wir daraus über die Rolle der Finanzwirtschaft in einer Volkswirtschaft? Wie passen sehr unterschiedliche inländische Preise für ein standardisiertes Produkt wie eine DVD mit dem Modell vollkommener Konkurrenz zusammen[3]? Das neue Werk führt außerdem Themen zusammen, die herkömmlich getrennnt behandelt werden: Zum Beispiel Produktionskosten und unterschiedliche Nachfrageelastizitäten; oder die Unternehmerrolle mit Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit. Schließlich tragen dynamische statt komparativ-statische Analysen, etwa zur Rolle von Innovationen für das Wirtschaftswachstum zu einem ganzheitlichen Verständnis unserer Wirtschaft bei[4].
Zahlreiche Ökonomen aus aller Welt arbeiteten am Buch und wollen es kontinuierlich verbessern. Auch die Leser tragen bei. Eine interaktive Fassung erweckt Abbildungen zum Leben, stellt Multiple-Choice-Fragen und bietet Hintergründe zu Konzepten oder Mathematik[5]. Aktuelle, vielseitige und kommentierte Literaturhinweise an jedem Kapitelende führen auch direkt auf Internet-Links. Viele Diskussionsfragen regen eigenes kritisches Denken an, etwa über Patente oder die Grenzen der Marktwirtschaft[6].
Alternative zum neoklassichen Mainstream?
Warum hat sich das Buch nicht sofort durchgesetzt? Es orientiert sich immer noch stark an neoklassischen Inhalten, wählt aber wesentlich komplexere Abbildungen als Mankiw[7]. Diese konventionellen Inhalte sind daher bei Mankiw leichter zu verstehen. Zweitens ist das Buch extrem lang und textlastig[8]. Durch sein offenes Konzept und die zahlreichen Autoren dürfte es auch künftig eher noch länger als kompakter werden. Schließlich ist es optisch wie alle US-Lehrbücher gestaltet – was zwar den Wiedererkennungseffekt erhöht, aber die Ablösung von der US-Dominanz auch äußerlich halbherzig erscheinen lässt.
Fazit: Kurzfristig Ergänzung, langfristig Ersatz
Es lohnt sich unbedingt, das Buch neben herkömmlichen Lehrbüchern einzusetzen. Im Moment erscheint aber noch nicht reif genug, um Mankiw & Co. vollständig zu ersetzen. Sollte das darin genutzte Schwarmwissen jedoch zu weiteren Qualitätssteigerungen beitragen, wird bald niemand mehr 40 Euro oder mehr für ein klassisches Einführungslehrbuch ausgeben.
Quellen:
[1] The CORE Project, „The Economy”, January 2015 Beta.
[2] N. Gregory Mankiw und Mark P. Taylor, „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“, 5. Auflage, Stuttgart 2012.
[3] The CORE Project, a.a.O, Unit 1, figure 11, p. 23 (Ungleichheit); Unit 1, figure 16, p. 29 (Wirtschaftskreislauf); (Unit 6, p. 14 f. (Marx); Unit 11, figure 13, p. 24 (Bankbilanz); Unit 8.7, v.a. figure 12, p. 25 (DVD).
[4] The CORE Project, a.a.O, Unit 7, figures 10+11, p. 19 (Produktionskosten und Nachfrageelastizitäten); Unit 6 (Unternehmen und Arbeitsmarkt); Unit 2 (Innovationen und Wirtschaftswachstum).
[5] The CORE Project, a.a.O, Unit 1, p. 1.
[6] The CORE Project, a.a.O, Unit 10, p. 28 (Patente); Unit 10, discussions 10+11, p. 37 f. (Grenzen der Marktwirtschaft).
[7] The CORE Project, a.a.O, z.B. Abbildung einer negative Produktionsexternalität in Unit 10, figure 3, p. 11 im Vergleich zu Mankiw, a.a.O., Schaubild 10-2.
[8] The CORE Project, a.a.O, z.B. Unit 4.5-4.6: Allein das Ultimatumsspiel nimmt hier Seite 17-29 ein!