Britta Kuhn
China, Arabisches Beben, Wohlstand und Armut der Nationen: Diese Bücher helfen schon auszugsweise,die Welt besser zu verstehen.
China-Versteher Kissinger
Am 28.9.2018 stellte ich auf diesem Blog “Die Chinesen” von (Baron/Yin-Baron, 2018) vor.[1] Das Buch war nicht nur erkenntnisreich, sondern lobte auch die China-Kompetenz des ehemaligen US-Außenministers (Kissinger, 2011) in höchsten Tönen. Tatsächlich bietet der damals schon 88-Jährige einen spannend geschriebener Helikopterblick auf Chinas geschichtliche und kulturelle Entwicklung, um die Gestaltungsmöglichkeiten einer künftigen, friedlichen Weltordnung zu entwickeln.
Ein guten Einstieg liefert Kapitel 1 („Chinas Einzigartigkeit“). Kissinger erklärt, warum China weltpolitisch lange so passiv agierte: “Sinozentrismus” und “Splendid Isolation” des Landes resultiere aus der traditionellen Selbstwahrnehmung, das Zentrum der Welt zu sein. Das riesige Reich sei von einer “Art Priesterschaft gelehrter Regierungsbeamter” verwaltet worden, die Eroberern stets ihre Dienste anboten, um das Riesenreich überhaupt regieren zu können. So hätten sich die Eroberer stets assimiliert, anstatt China zu beherrschen. Ausführlich grenzt das Buch die chinesische Einstellung zu Krieg und Sieg anhand der Spiele Weiqi und Schach ab. Das chinesische Weiqi versuche, leere Räume allmählich zu besetzen. Das westliche Schach setze dagegen auf frontale Zusammenstöße und totalen Sieg. Übertragen auf die Kriegsführung: Waffeneinsatz diene nach traditioneller chinesischer Lesart allein dem ultimativen Gnadenstoß, „nach extensiver Analyse und logischer, diplomatischer und psychologischer Vorbereitung“. Der „Universalismus“ der USA, die ihre Werte der ganzen Welt vermitteln wollten, gehe China ab. Ziel sei lediglich eine „willfährige, gespaltene Peripherie“, nicht die Eroberung anderer Völker.[2] Im Epilog empfiehlt der erfahrende US-Politiker eine “Pazifische Gemeinschaft“ nach Vorbild der Atlantischen Zusammenarbeit: Sie könne Asien, inklusive z.B. Japan, Indonesien und Indien, friedlich weiterentwickeln. Die Nachbarn müssten dann nicht länger zwischen einem chinesischen und amerikanischen Block wählen. Eine konkurrierende Sicht Chinas und der USA um die Vormachtstellung in Asien hält Kissinger dagegen für katastrophal.[3]
Alle weiteren Kapitel gehen ins Detail – vom beginnenden britischen Einfluss in China bis zur Amtszeit Barack Obamas. Das mag nicht jeden Leser interessieren. Allerdings verarbeitet Kissinger hier auch viele persönliche Eindrücke höchst interessant, z.B. über Chinas langjährigen Ministerpräsidenten Zhou Enlai.[4]
Islamexperte Hermann
Der ehemalige Auslandskorrespondent und aktuelle FAZ-Redakteur (Hermann, 2018) glaubt, dass die Konflikte in der arabischen Welt noch lange andauern werden. Das Ende der Kolonialzeit habe aus heterogenen Gesellschaften Staaten geschmiedet, die nur mit Gewalt zusammengehalten wurden und nun zerbrächen. In Ländern wie Syrien oder dem Irak sei die konfessionelle Zugehörigkeit wichtiger als die nationale, was destruktiv wirke. Hermann favorisiert den Arabismus als (wiederbelebtes) Zukunftsmodell. Dieser habe unter säkularen, d.h. weltlich ausgerichteten Diktatoren gelitten.[5] Als historisches Vorbild empfiehlt der Autor ausführlich den Westfälischen Frieden. Ein langfristiger Frieden solle unter anderem eher nationalstaatlich als konfessionell ausgerichtet sein und einem gemäßigten Arabismus folgen. Dies setze allerding voraus, dass konfessionelle Gruppen zugunsten des Einzelnen, des gemäßigten Islams und des Säkularismus an Einfluss verlören.[6]
Das Buch bietet umfangreiches religionswissenschaftliches Wissen, empfiehlt sich aber nicht als Einstiegslektüre in die arabische Problematik. Denn es stellt weniger die übergeordneten Zusammenhänge dar, sondern zählt eher länderspezifische Fakten auf. Deutlich werden aber die schwierigen Herausforderungen der arabischen Welt (siehe oben) und die wesentlichen Konfliktlinien (Syrien z.B. werde von Russland, dem Iran und der Türkei dominiert; Iran wiederum sei der Erzfeind der USA, Israels und Saudi-Arabiens).
Wirtschaftshistoriker Landes
Der ehemalige Harvard-Professor (Landes, 2010) analysiert die letzten 600 Jahre weltwirtschaftlicher Entwicklung hinsichtlich der Frage, wer im 21. Jahrhundert weltweit führend sein wird. Die wichtigste Rolle spielt seines Erachtens die Kultur. Förderlich seien z.B. Entdeckergeist, autonomes Denken, Wissen, eine positive Einstellung zu Arbeit, Leistung und technischem Fortschritt. Hemmend wirkten u.a. Intoleranz und Vorurteile, Konservativismus, ungeregelte Eigentumsrechte und Hierarchien. Die entscheidende Bedeutung der Kultur belegt Landes anhand zahlreicher Einzelfälle aus der Weltgeschichte: So habe z.B. das traditionell hierarchische System Chinas Fortschritt verhindert, während expatriierte Chinesen in Ost- und Südostasien überaus erfolgreich gewesen seien. Während die späte Ming- und frühe Qing-Dynastie im China des 16./17. Jahrhunderts neues Wissen abgewehrt habe, beruhe der rasante Aufstieg der Japaner darauf, dass sie „gelehrige Schüler“ gewesen seien. Indische Arbeiter hätten im 19. Jahrhundert britische Schubkarren abgelehnt – wegen ihrer Gewohnheit, schwere Lasten auf dem Kopf zu tragen und um möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten, von denen ganze Familien lebten.[7]
Landes‘ Kulturfokus unterscheidet sich vom Bestseller „Warum Nationen scheitern“. Dessen Autoren (Acemoglu/Robinson/Rullkötter, 2014) sehen schlechte Institutionen als Hauptübel. Auch sie bieten zahlreiche Länderbeispiele für ihre These. Gemeinsam ist beiden Werken: Sie bieten enormes historisches Wissen, ihre umfangreichen Einzelfällen dürften aber auch manch ein Zeitbudget sprengen.
Fazit
Man muss nicht jedes Buch von Anfang bis Ende lesen, um sein Länderwissen zu vertiefen. Die Inhaltsverzeichnisse ermöglichen ausgewählte Lektüre entlang individueller Interessen. Leider finden sich die jeweiligen Kernbotschaften nicht in griffigen Zusammenfassungen, sondern müssen aus den Anfangs- oder Endkapiteln destilliert werden. Wer sich nur Zeit für eines der drei Bücher nehmen will, sollte Kissinger wählen.
Literatur
Acemoglu, D., Robinson, J. A., Rullkötter, B., Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2014.
Baron, S., Yin-Baron, G., Die Chinesen. Psychogramm einer Weltmacht, Berlin 2018.
Hermann, R., Arabisches Beben. Die wahren Gründe der Krise im Nahen Osten, 1. Aufl., Stuttgart 2018.
Kissinger, H., China. Zwischen Tradition und Herausforderung, München 2011.
Landes, D., Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, 1. Aufl., [Erscheinungsort nicht ermittelbar] 2010.
[1] Vgl. https://besser-wachsen.com/2018/09/28/china-first/#more-1539
[2] Kissinger, a.a.O., S. 19-44, v.a. S. 22 („Sinozentrismus“), S. 24 („Splendid Isolation“), S. 27 („Priesterschaft…“), S. 41 („nach extensiver Analyse…“), S. 31 („Universalismus“), S. 35 („willfährige, gespaltene Peripherie“).
[3] ibid, S. 540-544.
[4] ibid, z.B. S. 254: Er habe „keine Persönlichkeit erlebt, die so faszinierend war“, was er auf den folgenden Seiten detailliert erläutert.
[5] Hermann, a.a.O., S. 15-19.
[6] ibid, S. 196-204 (Westfälischer Frieden) bzw. S. 336-339.
[7] ibid, S. 72 f. (China), S. 517 (Chinesen), S. 360 (Japaner), S. 246 (Inder).