Britta Kuhn
Wie schätze ich heute die ökonomischen Folgen des 24.2.22 für die EU ein?
Inflation
Die Inflation steigt weiter. Kurzfristig treiben vor allem die Erwartung knapperer fossiler Rohstoffe und Lieferkettenprobleme die Preise. Die → Geldpolitik der Europäischen Zentralbank wird darauf nicht mit Zinssteigerungen reagieren. Weniger Inflationsdruck entsteht, falls Länder wie Saudi-Arabien Lieferausfälle Russlands kompensieren oder russisches Öl und Gas wie gehabt fließen. Immerhin hängt Putins Regierung stark von Rohstoffeinnahmen ab – wie die damalige Sowjetunion während des kalten Kriegs.
Geldpolitik
Die Geldpolitik der EZB bleibt locker. Insbesondere die Zinsen werden nicht steigen. Erstens aus Angst vor einem Konjunkturabschwung nachdem Ukraine-Schock. Zweitens kauft die Europäische Zentralbank seit Jahren in großem Stil die europäische → Staatsverschuldung auf. Diese würde bei Zinssteigerungen explodieren.
Staatsverschuldung
Die Staatverschuldung steigt weiter. Vor allem Deutschland rüstet nun militärisch drastisch auf. Die Kosten der beschleunigten → Energiewende werden ebenfalls sozial abgefedert, nämlich zulasten künftiger Generationen und der Sparer.
Wirtschaftssanktionen
Die Wirtschaftssanktionen sind einmalig scharf. Vor allem der selektive SWIFT-Ausschluss russischer Finanzdienstleistungen lässt sich nur bedingt abmildern, nämlich durch die Nutzung von Kryptowährungen und eine engere Bindung an China. Auch die Entwertung der russischen Devisenreserven wirkt massiv: Die Zentralbank kann ihre US-Dollar und Euro nun weder auf den Weltmarkt werfen (um z.B. den Rubel zu stabilisieren), noch damit ausländische Güter erwerben.
Lieferketten
Die Lieferketten werden massiv diversifiziert. Sie bewiesen schon in der Corona-Pandemie zu viel Abhängigkeit von China. Das führte zu ersten Diversifizierungsschritten. Nun fällt der russische Partner aus oder muss umflogen bzw. umfahren werden. Viele Branchen und Unternehmen werden ihre Logistikstrategie nach dem „Ukraine-Schock“ neu ausrichten – weg von autokratisch regierten Kostenführern, hin zu näher gelegenen Demokratien.
Energiewende
Die Energiewende wird schneller und undogmatischer. Vor allem Deutschland senkt bald seine starke Abhängigkeit von russischen Rohstoffen. Das beschleunigt und verteuert die Energiewende. Auch Atomkraft und heimische fossile Rohstoffe werden eine Renaissance erleben. In Deutschland zwar weniger als z.B. in Frankreich oder Polen, zumal der Rückbau der Atomenergie hierzulande weit vorangeschritten ist. Aber schon immer importierte Deutschland u.a. Atomstrom aus den EU-Partnerländern (→ Lebenslügen).
Flüchtlinge
Ukrainische Flüchtlinge sind EU-weit willkommen. Westeuropas Verwunderung über die Hilfsbereitschaft u.a. Ungarns und Polens erstaunt. Dort leben schon lange viele Ukrainer. Die Abneigung der östlichen EU-Regierungen galt stets der Einwanderung aus nicht-europäischen Drittstaaten. Zumal die EU auf ukrainische Fachkräfte angewiesen ist. Man denke allein an zehntausende IT-Experten und Lastwagenfahrer, die in oder für Deutschland arbeiten.
Deutschland – Russland
„Wandel durch Handel“ ist passé. Das deutsche Exportmodell wird sich grundlegend anpassen. Der 24.2.22 hat auch dem letzten Putin-Versteher verdeutlicht, dass Demokratie und Freiheit einen Preis haben. Die Versicherungsprämie wird in deutlich diversifizierteren → Lieferketten und Absatzmärkten bestehen.
Deutschland – China
Die deutsche Wirtschaft bewertet das China-Geschäft neu. Was für Russland im Kleinen gilt, betrifft China im Großen: Die Zeit der Naivität ist vorbei. Deutsche Unternehmen werden sich zügig um zusätzliche Beschaffungs- und Absatzmärkte kümmern, um die teilweise enorme Abhängigkeit von Xi Jinping zu verringern.
Europäische Integration
Die EU bleibt Mittelmaß. Im Zeichen äußerer Bedrohung stehen die EU-Mitglieder zwar erfreulich geschlossen zusammen. Für den Aufbau einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft wird der Elan aber nicht reichen. Sobald der gemeinsame Gegner entfällt, brechen die nationalen Egoismen wieder auf.
Lebenslügen
Lebenslügen werden offensichtlicher. Vor allem Deutschland war bis zum 24.2.22 Meister des Selbstbetrugs. Demokratie, Frieden und Freiheit? Super, solange sich allein die USA um die militärische Abschreckung kümmern. Ökologie? Unbedingt, aber nur mit Maximalkonsum für alle. Nun sind wir hellwach. Ob sich die EU eines Tages selbst verteidigen kann? Ob Russland EU- und NATO-Mitglied wird?
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